Rennervate! * (Bonus-Beitrag)

* Zauberspruch aus dem Harry Potter-Universum

Wenn du einfach nur dastehst und hinter deinem Rücken jemand geräuschvoll in Ohnmacht fällt, dann ist das etwas gänzlich ... Unerwartetes.

 

Aber von vorn.

 

Es ist etwa 7 Uhr früh, und du fährst im Linienbus, weil du dich - wie hier berichtet - auf den Weg zur Krebs-Nachsorge in Richtung Krankenhaus gemacht hast.

Das ist normalerweise nicht der Bus, den du nehmen würdest, denn sonst bist du ja in die andere Richtung unterwegs, zu deinem Arbeitsplatz.

Im Normalfall wärst du auch für äußere akustische Reize unempfänglich, denn für gewöhnlich hättest du deine Over ear-Kopfhörer auf, um dich mit deiner Lieblingsmusik in einen etwas wacheren Zustand zu versetzen.

Heute aber trägst du die nicht, weil die Strecke zu kurz ist, und weil du was anderes im Kopf hast - nämlich, dass du gleich einen Brustwand-Ultraschall bekommen wirst und das immer noch keine alltägliche Situation für dich ist.

 

Weil der Bus ziemlich voll ist, stehst du etwa in der Mitte und hältst dich an einer Stange fest. Hinter, neben und vor dir stehen weitere Leute und der Soziopath in dir rollt innerlich die Augen, weil du gerne etwas mehr Abstand hättest, aber es hilft ja nix.

Schräg vor dir steht ein junger Mann mit Ziegenbärtchen. Sein Mund ist leicht geöffnet und er scheint gedankenverloren in die Luft zu starren.

Du siehst den Typen an und denkst: "... Schaust du dumm aus."

Aber schon fliegt dieser Gedanke wieder weg, wie ein Blatt im stürmischen Wind.

Der Ultraschall. An den denkst du. Du bist nicht richtig nervös, aber cool bist du auch nicht.

Den dumm dreinschauenden Mann hast du schon wieder vergessen, weil dir all die anderen Leute im Bus (zumindest die, die sich in deinem trägen Blickfeld befinden) auch nicht sonderlich sympathisch sind.

 

... Und dann fällt hinter dir auf einmal jemand um.

Du spürst sogar den Luftzug der Bewegung und hörst kurz darauf einen überraschend lauten Rumpler.

Erschrocken drehst du dich um und blickst fassungslos auf die junge Frau hinab, die - zufällig hinter dir stehend - gerade eben das Bewusstsein verloren hat.

Du registrierst in Sekundenbruchteilen ihre sorgsam zusammengebundenen Haare, den teuer aussehenden Mantel, die Handtasche und die modische Hose.

Vor allem aber bemerkst du, dass die junge Frau auf den ersten Blick wie tot aussieht.

Sie bewegt sich nicht, ihre Haut ist weiß wie geronnene Milch, und ihre Augen sind halb offen.

 

Du...

... was machst du?

In den ersten drei, vier, fünf Sekunden, nachdem das passiert ist, bewegst du dich keinen Millimeter. Du bist wie zur Salzsäule erstarrt.

Damit bist du aber nicht alleine, denn dieser Schreckmoment lässt auch alle anderen Umstehenden wortlos, geschockt auf die Szene starren.

 

Alles starrt - lauter Salzsäulen.

 

Aber dann kommt Bewegung rein.

DU bewegst dich als erstes. Aber nicht zu der in Ohnmacht Gefallenen hin. Nein, die liegt immer noch zu deinen Füßen. Stattdessen bewegt sich deine Hand in die Tasche, um das Handy hervorzuzerren.

Dein Kopf ist völlig blank, und du weißt, dass du völlig widersinnigerweise keine Ahnung hast, wie du dich jetzt richtig verhalten sollst.

Also das Handy. Wie man das bedient, weißt du ja.

Obwohl... wie du da so stehst, könntest du auch so ein typischer "Unfall-Gaffer" sein, der vielleicht sogar Fotos und Videos macht.

Du hältst ja das Handy gerade hoch, wie Harry Potter den Zauberstab. ("Reparo! ... Ach nein, falsch... Rennervate! - Ja, genau!")

Wie von Zauberhand gelingt es dir dann auch, das Mobiltelefon zu entsperren.

 

In der Zwischenzeit - alles hat nicht länger als ein paar Sekunden gedauert (aber - ja, erraten! - es kommt einem wie eine Ewigkeit vor), da stürzt ein Mann zu der Frau und beugt sich über sie.

Ein zweite Person kommt dazu, eine dritte. Noch jemand schreit nach vorn zum Busfahrer, er möge anhalten.

Du gehst gleichzeitig etwas zurück, während eine Stimme in deinem Kopf dich mahnend zurechtweist:

 

Alles, was dir einfällt, ist das Handy??

 

Aber darum - Hilfe zu rufen - muss sich ja auch jemand kümmern.

Du tippst 133... nein, verdammt, das ist ja die Polizei.

Du schaust wieder auf die Ohnmächtige hinunter. Der Mann zerrt ihr gerade die Zunge aus der Kehle, denn offenbar hatte sie sie verschluckt.

Dein Herz klopft dir bis zum Hals.

 

Dann hast du endlich die richtige Nummer gefunden, hast bald jemanden dran, der deinen Notruf entgegennimmt, und du stellst dich zum Glück halbwegs souverän an, während dir der halbe Bus dabei zuhört.

Du wirst gefragt, ob die Frau ansprechbar ist, wirbelst wieder herum, und ja - jetzt sitzt die junge Frau, an die Fahrzeugwand gelehnt, da, hat die Augen wieder offen, und der junge Mann, der ihr vielleicht das Leben gerettet hat, kümmert sich ... während jemand anderer ihre Beine hochhält.

"Der Kreislauf vermutlich", diagnostizierst du ins Telefon, und man verspricht, gleich einen Notarztwagen vorbeizuschicken.

 

Der Bus steht längst in der Haltestellenbucht, und die Türen öffnen sich, weil die Leute los müssen... und hier geht's erst mal nicht weiter.

Du selbst musst ja auch weiter. Brustwand-Ultraschall. Fast hättest du es vergessen. Kommt dir auch gerade unwichtig vor.

 

Bevor du aussteigst - fast mit schlechtem Gewissen - schaust du noch einmal die helfenden Retter an, die bei der Frau sitzen und stehen.

DIE haben vorbildlich reagiert, schimpfst du dich innerlich selbst.

DU dagegen.... da war nur das Handy in deiner Hand.

Auch wichtig, klar - aber ....

.... aber...

... aber...

 

Vor allem aber fällt dir dann noch der junge Mann auf, der als Erstes direkt Erste Hilfe angewandt hat, die Zunge aus dem Rachen gezogen hat usw. - ein wahrer Held, und nein, das meinst du gewiss nicht zynisch.

Du erkennst ihn jetzt- es ist der Typ mit dem Ziegenbärtchen und dem dummen Gesichtsausdruck.

Dem vermeintlich dummen Gesichtsausdruck, der dazugehörige Fahrgast hat sich ja dann im Endeffekt am klügsten von allen verhalten.

 

Die einzig Dumme bist eigentlich DU...

... mit deinem Handy.

 

"Super, dass Sie gleich die Rettung angerufen haben", sagt jemand hinter dir, als du draußen - etwas verloren - auf dem Gehsteig stehst.

Schon wieder hinter dir - du zuckst zusammen und drehst dich um.

Es ist irgendwer, den du nicht kennst, der auch im Bus war mit dir und der ohnmächtigen Frau.

Auch einer von den Dummen, die du gleich verurteilen musstest, weil es früh morgens war, weil du manchmal keine Leute magst, weil du unterwegs zur Nachsorge warst und weil du heute früh zwar nicht direkt mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden bist, aber mit dem rechten auch nicht unbedingt überdeutlich und nachdrücklich.

 

Du schaust ein bisschen - na ja, ich will jetzt nicht sagen, dumm - aber sonderlich hochgeistig feinziseliert wirkst du auch nicht gerade.

Du grinst ein bisschen und nickst.

Schön, dass jemand anders von dir überzeugt zu sein scheint - du selbst bist es nicht.

 

In all dem hast du das Thema des Tages - deine Nachsorge - fast vergessen, und so wartest du jetzt ein paar wenige Minuten, bis der nächste Bus kommt.

Du hoffst, dass die Rettung bald da ist und die junge Frau vielleicht einfach nur unterzuckert war oder möglicherweise schwanger und dass alles in Ordnung kommen wird.

Einfach nur eine "jugendliche" Ohnmacht - mehr nicht. So etwas.

 

Dir ist deine Nachsorge nicht mehr so wichtig, sie nimmt nicht mehr soviel Raum ein, denn du hast heute wieder mal gelernt, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und - vor allem - nicht zu erwarten, dass man auf alles... wirklich ALLES ... immer jederzeit bestens vorbereitet ist.

(Außerdem wäre eine Erste Hilfe Kurs-Auffrischung auch kein Fehler.)

 

Du beschließt dann allmählich, nicht so streng mit dir selbst zu sein.

Du hast deinen Teil beigetragen.

Auch die größten Helden wissen nicht immer augenblicklich, was zu tun ist, und die Rettungskette hat sich auch so in Gang gesetzt.

Wer würde dir einen ernsthaften Vorwurf machen  ... außer du dir selbst?

 

Du machst einen vorsichtigen Haken drunter und konzentrierst dich endlich auf die bevorstehende Untersuchung.

Aber die junge Frau schleicht sich manchmal noch ein bisschen in dein Bewusstsein.

Sie und die "dummen" Leute aus dem Bus, die so hervorragend geholfen haben.

Jeder auf seine Weise.

Inklusive dir.

 

Du Dummi. ❤️

 

 

 

 

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