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Schon wieder ist ein Jahr vorbei, und es wird schon wieder Zeit für meinen persönlichen Diagnosen-Gedenktag (den ersten von zweien)... doch genau genommen habe ich mich bereits im Beitrag zum Achtjährigen den etwas zweifelhaften Nostalgie-Rückblicken hingegeben.

Das nun auf gleiche Art zu wiederholen und kräftig auf die Tränendrüse zu drücken wär fad.

 

Ich hätte mir auch überlegt gehabt, die "Vorher"-Marlies und die "Jetzt"-Marlies an einen Tisch zu setzen und miteinander sinnieren und plaudern zu lassen, aber: Gäääähn, wer will das lesen? Und neu und innovativ ist das zudem auch nicht.

 

Was erzählt euch das über mich?

Auch nichts Neues.

Nichts, was ihr nicht schon wisst.

 

Ich kann außerdem niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken, wenn ich euch jetzt zu schildern anfange, dass ich nicht mehr rauche und mehr auf meine Bedürfnisse achte.

Dass mir die Krankheit zu der Erkenntnis verholfen hat, dass ich eigentlich ein halber Kerl bin und mich nicht mehr verbiegen lasse. Inklusive rührseliger Story dazu.

Dass ich auf einmal voll das Schreibtalent bin und vorher gar nicht den offensichtlichen Grund gehabt hätte, über etwas konkret zu schreiben, wie ich das hier tue.

 

Ihr wisst das alles schon, und deswegen brauche ich es euch nicht mehr zu erzählen.

Fast zuviele Erfahrungsberichte im Krebsdunst stellen das Vorher und Nachher auf beinah überstrapazierende Weise gegenüber (wenn dieses Vorher-Nachher auch - zugegeben - fast nirgends so stark zutage tritt wie hier). Damit ist niemand speziell und wertend gemeint, und natürlich ist es ohne Zweifel gut und richtig, immerzu über all die Entwicklungen, Entfaltungen und Raupen im Kokon, die zu Schmetterlingen werden, zu lesen. (Was ist, wenn man bloß ein alter Falter geworden ist?)

Das ist eh alles super, aber ich will es nicht mehr lesen - zumindest im Moment.

Ihr vielleicht auch nicht.

 

Ich hab' doch auch ein ganz normales Leben, so wie ihr.

Bisschen "edgy" vielleicht.

 

...

 

Auch mir fällt es manchmal schwer, morgens aus dem Bett zu kommen. Da hilft es auch nichts, das Handy weit wegzulegen. Ich mache dann manchmal was ganz Verwegenes und stelle mir den Alarm einfach auf 20 Minuten später... nur um dann geschlagene 19 Minuten wachzuliegen und mir vorzunehmen, die geklauten Zusatzminuten voll und ganz zu genießen.

 

***

 

Ich habe gerade entschieden, vom Kaffeetrinken wieder mehr in Richtung Tee umzuschwenken. Muss ja kein Puuuh-Ähhhh-r-Tee sein - es reichen schon ganz stinknormal Pfefferminz, Kamille, Zimt, Vanille, Kräuter aller Art. Wenn ich dann zwischen Knochenleitermessung und Ex-Hörer-Umlagerung mal von meiner dampfenden (und - wenn ich wieder mal drauf vergesse - nicht mehr ganz so dampfenden) Tasse einen Schluck nehme, dann ist der doch teils ganz schön fordernde Alltag für einen Moment wieder etwas zurechtgerückt. :-)

 

***

 

Ich habe beruflich mit dem Gehör zu tun, und es hat sich erst in den letzten Jahren für mich herauskristallisiert, dass ich sehr sensibel auf akustische Reize reagiere und mich schnell überfordert fühle. (Außer es geht um ein Heavy Metal-Konzert.) Bei zuviel davon wünsche ich mir etwas Rückzug, und genauso verhält es sich auch mit anderen Reizen. Zudem bin ich sehr empfänglich und fühlig in Bezug auf Stimmungen und dem, "was in der Luft schwärt".

Ich bin im klassischen Sinn hochsensibel, mag jedoch das Wort nicht, weil ich es wohl auch selbst mit "überempfindlich" gleichsetze.

Was jedoch nicht stimmt.

Was ich auch weiß.

Jedenfalls ergibt für mich vieles jetzt Sinn.

 

***

 

Ich gehe gerne die Wege von früher, besuche Orte, mit denen ich besondere Erlebnisse und gutes wie auch schlechtes Vergangenes verknüpfe. Das wisst ihr schon, darüber habe ich schon berichtet.

Eine Ausnahme gibt es: die Orte, die mit meiner verstorbenen Hündin verbunden sind. Dazu gehört auch die Gegend, in der ich früher wohnte. Deren Umgebung wir Quadratkilometer für Quadratkilometer bis ins Detail immer wieder abgegangen sind.

Es schmerzt zu sehr, würde ich diese Wege wieder gehen.

Nicht der Mensch, den ich ebenfalls mit diesem Ort verbinde, fehlt mir, und der auch dabei war.

Im Zentrum steht für mich dieser kleine Hund mit dem großen Herzen, den ich immer noch jeden Tag vermisse. Deshalb wird es für mich wohl weiter einen Teil der Stadt geben, den ich (vorerst) nicht mehr besuchen will.

 

***

 

Ich bin kein penibler-ordentlicher Mensch - ich glaube, das war ich noch nie. In mir regiert manchmal das Chaos, also regiert es auch außen. (Seltsam... in der Arbeit habe ich es lieber andersrum.)

Ich habe keine Liebesbeziehung mit meinem Staubsauger und wenn ich etwas wegräume, ist es wie von Zauberhand wenig später wieder hergeräumt. Ich habe eine Sisyphus-Wohnung. Aber immerhin - ich habe eine Wohnung. Die ich innerhalb von 3 Wochen nach der Anmeldung bei der Wohnungsgenossenschaft bekommen habe. Das muss man mir erst mal nachmachen. Da darf ein bisschen Unordnung schon mal sein. ;-)

 

***

 

Ich bin paradoxerweise trotzdem jemand, der Struktur und "Ordnung" mag und sich das auch wünscht. Das bringt mich manchmal auch dazu, etwas umständlich zu sein. Ich erledige Aufgaben vermutlich zeitweise auf Umwegen, jedoch auf erprobte, funktionierende Art, und wenn ich sie dann weitere Male ausführe, dann nehme ich wiederum nicht den kürzesten, einfachsten Weg, sondern den schon bekannten, "sicheren".

Ich mag Routine.

Wenn ich nicht wüsste, dass doch das eine oder andere Charakteristikum dagegenspricht, würde ich sagen, ich habe autistische Tendenzen.

Ist das "edgy" genug? - Na, das will ich meinen. :-)

 

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Ich habe letztens in einem statistischen Fragebogen bei Geschlecht "divers" angekreuzt und mich saumäßig revolutionär dabei gefühlt.

 

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Ich werde manchmal so richtig gereizt und zornig, wenn etwas Technisches nicht funktioniert. Dazu reicht schon, wenn ich heimkomme und das W-LAN funktioniert nicht. ... WARUM? Und was kann ich dagegen tun? JETZT - nicht später. Das Handy friert ein? Und ich weiß nicht warum.

Ich - muss - einfach - immer - wissen - warum.

... Wie gut, dass ich in einem Beruf arbeite, bei der ich ja so gar nicht abhängig bin von technischen Geräten aller Art. ;-)

 

***

 

Als ich damals den Blog startete, habe ich hin und wieder überlegt, ob es wirklich so gut ist, soviel Persönliches auf so öffentliche Art bereitzustellen.

Damit setze ich mich mittlerweile nicht mehr auseinander. Ich habe gelernt zu mir zu stehen und mich nicht mehr von Meinungen anderer abhängig zu machen. In mir und mit mir ist in den letzten Jahren soviel passiert, wo vielleicht nicht mehr jeder mit will. Das nehme ich in Kauf.

Wenn es mir nicht gut geht, wünsche ich mir, für jemanden von einzigartiger Bedeutung zu sein, wie ich es lang nicht mehr gespürt habe. Aber dann weiß ich, dass ich mich immer wieder auch mit dem "Kleinen" zufrieden geben kann, das zu mir getragen wird und das mich emporhebt.

Dazu gehören auch Reaktionen auf meine Blog-Beiträge - öffentliche und private.

Verbal geäußert, schriftlich als Kommentar oder Mail.

Das wiederum lässt mich erkennen: Hier ist sie doch irgendwie ... die Bedeutung. Es sind dann die winzigen Dinge... die aber zahlreich sind... und das macht mich dann glücklich. Danke dafür! :-)

 

..................

 

Das war's jetzt - mein NEUNjähriges Jubiläum der anderen Art.

Neun banale und nicht banale Geschicht(ch)en habe ich mit euch geteilt, und jede davon verschafft euch vielleicht ein klareres Bild von mir.

All das, was ich beschrieb - da hat der Krebs mitgepfuscht (positiv gesehen).

Zu jeder Sache steh' ich.

Die "Vorher"- und die "Nachher"-Marlies, die ich nicht an den Tisch zur Diskussion bitten wollte, sind halt einfach EINS - die Mischung, die mich ausmacht.

Die Mischung, die jeden von uns ausmacht, mit all den Erfahrungen, Katastrophen, Glücksmomenten, Verrücktheiten, Banalitäten, die das Leben ausmachen.

 

Auf die nächsten...

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Helmuth Schagerl (Dienstag, 21 September 2021 07:30)

    Marlies, ich freu`mich schon auf dein erstes Buch (Roman) oder Ähnliches.
    Mach`bitte weiter so!
    Dein Papa!

  • #2

    Sabine (Dienstag, 21 September 2021 07:48)

    Liebe Marlies, ich lese dich sooooo gerne. Wie du dich auszudrücken vermagst....auf den Punkt gebracht und nachvollziehbar und direkt mit Film im Kopf. Auch deine Bilder sind wunderbar dazu.
    Heli hat recht, Buch wär nicht schlecht....ich unterschreibe die Petition mit :-))