Gertraud geht wieder einkaufen

Die paar Trümmer machen den Korb ganz schön schwer, denkt Gertraud.

Eben war sie beim Greißler um die Ecke, das Notwendigste für die nächsten drei oder vier Tage besorgen.

Der Supermarkt mit seinem größeren Angebot ist etwas weiter weg, und dafür fühlt sie sich heute nicht fit genug.

 

Ich muss mit meinen Kräften mehr haushalten, nimmt sie sich vor. Mehr auf mich schauen.

Manchmal gelingt ihr das gar nicht so schlecht, manchmal spürt sie aber erst hinterher, dass sie sich doch übernommen hat.

Es ist halt nicht mehr so einfach.

 

Gertraud hat wieder Krebs.

Diesmal in der anderen Brust. Kein "Ableger" von der ersten Erkrankung, sondern ein eigenständiger, neuer Krebs mit anderen biologischen Eigenschaften. Daher muss sie auch seit einigen Monaten eine andere Therapie machen, und die Hormone werden jetzt auch beeinflusst.

 

In dem kleinen Ort im Salzkammergut lieferte Gertraud also wieder unfreiwillig Gesprächsstoff bei all den Tratschmäulern, die es nicht schaffen, ihr ins Gesicht zu schauen und sie vielleicht mal zu fragen, wie es ihr wirklich geht. Das wäre ja zuviel verlangt.

 

Wie geht es ihr wirklich?

Manchmal weiß sie das nicht so recht. Einerseits ist sie ja schon etwas "geübt" im Umgang mit einer Krebserkrankung, aber da seit dem ersten Karzinom über acht Jahre vergangen sind und sie natürlich auch älter geworden ist, gestalten sich viele Dinge schwieriger.

Sie leidet ja auch so schon immer noch an den Folgen vom ersten Mal. Mit den Zehen, zum Beispiel, hat sie ja immer noch Probleme.

Die Kraft ist auch nicht mehr so da, und die Gedanken lassen sich manchmal auch nicht so gut abstellen.

Was, wenn ich den Krebs nie mehr loswerde?

 

Mittlerweile haben sich die Gerüchte und Tratschereien wieder etwas beruhigt.

Wahrscheinlich bin ich nicht mehr sensationell genug, denkt Gertraud sarkastisch. Neuestes Gesprächsthema im Ort ist nämlich die Tochter von der Sellinger Clara - ausgerechnet! - die laut Gerüchten in der Bezirksstadt auf ihrer Arbeitsstelle mit einem Schwarzen angebandelt hat. Einem Krankenpfleger angeblich... aber vermutlich hat sich der Kerl eh nur Sozialleistungen vom Staat erschlichen, will der Rosi jetzt ein Kind machen und sich ins gemachte Nest setzen. Wahrscheinlich verkauft er Drogen! Jedenfalls ist sich die Wenninger Elfriede da ganz sicher. Die Sellinger war früher ihre beste Freundin, aber dann hat sie irgendwas gesagt, was der Elfi nicht gepasst hat und -

 

Gertraud winkt ab.

Dieses kleinbürgerliche boshafte Geschwätz interessiert sie nicht mehr. Als wenn's nichts Wichtigeres gäbe als wer wen mag oder nicht mag und wer mit wem zusammen ist.

Ich bin schon seit Jahr und Tag alleine, denkt Gertraud, aber ohne Bedauern in den Gedanken. Ich bin das gewohnt so, dafür kann ich auch machen, was ich will. Und wenn ich was brauche, habe ich ja meine Verwandten ganz in der Nähe.

Gertraud kann sich selber noch problemlos versorgen, und für mehr reicht die Energie eben nicht, aber das ist halt so.

 

Das ist halt so.

Das ist immer noch ihr Leitspruch. Was nützt es auch, sich zu beklagen? Es lässt sich ja nicht ändern. Wenn ihr durch die Therapie noch einige lebenswerte Jahre geschenkt werden, kann sie doch zufrieden sein.

Die Leute, die über alles jammern, sind ihr zuwider und sie geht ihnen immer mehr aus dem Weg.

 

Es ist nach wie vor nicht so einfach.

 

"Entschuldigung, ich glaube, Sie haben Ihre Maske vergessen", sagte Gertraud vor kurzem zu einer ihr fremden Frau beim Greißler. Sonst hatte niemand etwas einzuwenden, und genau genommen nahm der Lehrbursch es auch nicht immer so genau mit dem Maskentragen.

"Was geht SIE denn das an??" fuhr die Frau, die keinen Meter von Gertraud entfernt stand, sie an und spuckte vermutlich Trillionen von winzigen Speicheltröpfchen in ihre Richtung.

"Von Ihnen lass ich mir nichts vorschreiben, das ist MEINE Gesundheit und mir können die mit ihrem Masken- und Impf-Dreck gestohlen bleiben, das ist MEIN Körper und -" ...bla-bla-bla...

 

Gertraud schaltete die Ohren auf Durchzug, zog aber den Kopf etwas ein und machte Anstalten, den Greißler zu verlassen. Eben betraten auch zwei Jugendliche mit ihren Handys in den Fingern das Geschäft, und beide trugen ihre Masken am Kinn.

Gertraud resignierte und schob sich hinaus. Die maskenlose Frau schimpfte ihr immer noch hinterher.

Das ist das Kreuz mit dem ganzen Corona, dachte Gertraud.

Jeder denkt nur an sich.

Nein, nicht jeder - aber viele.

 

Ich hab nicht "Risikogruppe" auf der Stirn stehen, muss Gertraud zugeben, als sie sich noch einmal an die Begebenheit erinnert. Aber man muss immer daran denken, dass es Menschen mit Krankheiten - wie sie - gibt, die gefährdeter sind als andere.

Manchen fällt es schwer über den eigenen Horizont hinauszublicken, denkt sie nicht ohne Bitterkeit.

 

"Weißt du, ich bin kein Mensch, der sich über viel aufregt", erzählt sie ihrer Freundin Nora am Telefon.

Nora war damals zur gleichen Zeit erkrankt, und so hatten sie sich kennengelernt.

In letzter Zeit haben sie nicht mehr so oft telefoniert, und Nora hat auch auf Gertrauds Geburtstag vergessen (wofür sich die Jüngere zähneknirschend entschuldigt hatte), aber das ist nicht so schlimm.

Wie immer möchte Gertraud mehr über das Leben der Freundin hören als von sich selbst zu erzählen.

Mein Leben ist nicht aufregend, ist sie sich sicher. Nora hat noch viel mehr Träume zu verwirklichen als ich.

 

"Du hättest ihr eine Goschn anhängen sollen", sagt Nora mit ihrer erfrischend trockenen Art und meint jetzt natürlich die Frau beim Greißler.

Gertraud muss lachen. Ich weiß, denkt sie... so etwas kann man sich eigentlich nicht gefallen lassen.

"Ich bin nicht gut mit Konflikten", gibt sie wahrheitsgemäß zu.

"Und du hast es mir ja selber gesagt: Das sagt nichts über mich aus, wenn die so mit mir umspringt... und wenn die Sellinger und die Wenninger und noch andere so mit mir umspringen. Das sagt was über SIE aus."

 

Eine kurze Pause folgt am Telefon.

"Wir haben etwas gelernt durch die Krankheit", erklärt Nora. "Auch wenn so etwas passiert... auch wenn wir verletzende Dinge hören oder erfahren - so etwas mag uns mehr treffen als früher, aber unsere Persönlichkeit, unser Innerstes kann es nicht berühren. Denn wir stehen nicht auf der gleichen Stufe wie die. Wir sind nicht besser, aber wir haben Dinge erlebt, die andere so nicht kennen. Das ist nicht deren Schuld, und ich wünsche niemandem Krebs, aber manchmal würde es nicht schaden, wenn manche Menschen von ihrer Selbstsüchtigkeit abrücken und-"

Nora kommt wieder mal in Fahrt, und wie immer kann sich Gertraud etwas davon mitnehmen, aber es ist schon auch so, dass vieles wieder vergessen oder in den hintersten Winkel des Bewusstseins verschwunden ist, wenn die nächste Konfrontation ansteht. Und Nora hat manchmal auch leicht reden... irgendwie.

 

Ich kann nur versuchen mich, so gut es geht, selber zu schützen, denkt Gertraud. Das ist das Wichtigste. Ich weiß, was ich brauche und was nicht... und ich brauche ganz bestimmt nicht diese Engstirnigkeit von den Leuten.

 

Gertraud schließt die Haustür hinter sich und geht langsam die Stufen in den ersten Stock hinauf. Ihre Nachbarin Rosa Schiller kommt ihr entgegen. Die hat auch schon ein paar so komische Bemerkungen gemacht. Aber heute lächelt sie sie an.

"Soll ich Ihnen den Einkaufskorb hochtragen, Frau Winterleitner?" fragt sie.

Gertraud versucht sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen.

"Danke, es geht schon", sagt sie freundlich. "Es ist ja nicht weit."

Kurz darauf streift sie in ihrer Wohnung die Schuhe ab und trägt ihren Einkauf in die Küche.

Sie lächelt immer noch leicht.

Vielleicht doch eine ganz freundliche Frau, die Rosa Schiller.

Soll ich sie mal zum Kaffee einladen? Sie zuckt mit den Achseln. Ja, vielleicht... vielleicht auch nicht.

Aber gefreut über die kleine Geste beziehungsweise die Bereitschaft hat sie sich schon.

 

Gertraud setzt sich erst mal in ihren Lieblings-Fernsehsessel - den mit dem weichen Polster. Erst mal zehn Minuten Pause machen und dann die Einkäufe verstauen.

Ich muss ja mit den Kräften haushalten.

Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.

Ein Lächeln umspielt ihre Lippen.

Nein, denkt sie.

Ich muss nicht - ich will mit meinen Kräften haushalten. Das ist ja schließlich MEIN Körper und MEINE Gesundheit, und da lass ich mir nichts vorschreiben.

"Blöde Kuh", flüstert Gertraud im Gedanken an die ignorante Person beim Greißler.

Und - bevor sie sich unbeabsichtigt, aber wohlverdient, ein kleines Nickerchen gönnt, setzt sie noch leise hinzu:

".... und nächstes Mal... da häng ich dir eine GOSCHN an."

 

 

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Gertraud, Nora und all die anderen gibt es wirklich - sie heißen nur anders.
Auch, was Gertraud erlebt hat und erlebt, ist wahr.

Ihr habt sie bereits im ersten Teil der Geschichte kennengelernt.

 

 

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