Gertraud geht einkaufen

Gertraud hat im Leben schon so einiges mitgemacht, mit ihren über siebzig Jahren. Noch wird es aber nicht Zeit, ans Sterben zu denken, findet sie. Auch wenn vieles schon mühsam ist. Die Knochen wollen nicht mehr so, und für kurze Wege braucht sie um einiges länger als früher. Das liegt an den Füßen – den Zehen, genauer gesagt. Die machen ihr Probleme seit der Chemo – auch wenn das alles schon ein paar Jahre zurückliegt. Der Körper erholt sich halt nicht mehr so gut wie mit zwanzig.
Es ist wirklich nicht immer lustig, das Leben. Manchmal sogar richtig beschwerlich. Aber Gertraud will auch nicht zuviel klagen… schließlich hat sie eine Krebserkrankung überstanden.
Dafür bin ich dankbar. Jeden Tag.
Ich lebe, freut sich Gertraud still für sich, und bekommt feuchte Augen, wenn sie darüber nachdenkt. Sie zeigt das nicht offen, denn hin und wieder ist ihr, als hätten andere Menschen das anders erwartet oder fast sogar… erhofft?

 

Gertraud wohnt in einem kleinen Ort im Salzkammergut. Hier kennt man sich. Hier weiß man Bescheid… über alles, was sich tut. Und in einem kleinen Ort ist das meist nicht viel, darum klammert man sich an die wenigen "aufregenden" Geschichten.
Als Gertraud das mit dem Krebs erfuhr, da war das nicht ihr erster Gedanke, aber vermutlich der zweite oder dritte: Die werden sich das Maul zerreißen.

Und so war es auch.


Während der Chemo, die ein paar Monate dauerte, konnte sie das halbwegs ausblenden. Jedoch waren die wenigen Male, die sie sich "draußen" sehen ließ – wenn es um unvermeidbare Dinge wie einen Arztbesuch wegen eines Rezeptes ging – unangenehm. Sogar sehr unangenehm.
Gertraud bemerkte sie, die scheinbar unbeteiligten Blicke, wenn sie selber hinsah. Doch wenn sie sich abwandte, zum Beispiel am Pult der Sprechstundenhilfe, da konnte sie es hören – das aufgeregte Flüstern.
"…Krebs…"
"…also ich könnte das ja nicht…"
"…mit der Glatze…"
"…schau mal hin…"
"….pssst…."


Sie steckte ihr Rezept ein und verhielt sich nach außen hin wie immer, doch innerlich wühlten Zorn und Erniedrigung. Es war hier im Wartezimmer genauso wie draußen, wenn man sich auf der Straße begegnete. Sie taten, als wäre sie nicht da oder als wäre sie ein bunter Hund... als wäre sie taub und blind für dieses abschätzige Mustern und das Austauschen der neuesten Gerüchte.


Ich bin nicht die einzige, dachte Gertraud dann, auch wenn sie das nicht wirklich trösten konnte. Ludmilla vom Wiesinger Hof war schwer zuckerkrank und hat ein Bein verloren, das war für eine Zeitlang auch DAS Gesprächsthema. Oder andere. Der Gruber Michl mit seinem Hodenkrebs. Gertraud hatte sich mal mit der Wenninger Elfriede darüber unterhalten, die Stein und Bein schwörte, den habe der Michl nur deswegen bekommen, weil er soviele Weiber neben seiner Frau gehabt habe. Von einer habe er sogar ein Kind gehabt… ob Gertraud das eigentlich wisse.
Gertraud wusste es nicht. Sie sah in Elfriedes aufgeregt funkelnde Augen und schüttelte den Kopf.
Da nagte schon dasselbe zornige Gefühl in ihr wie bei ihren Arzt- oder Apothekenbesuchen, als sie selber noch krank war.

Einmal traf Gertraud die Clara Sellinger von der Grübl-Alm. Da war Gertraud schon wieder gesund, die Haare wieder gewachsen, und langsam kehrte auch die Kraft zurück.
"Ah, Gertraud", hörte sie die honigsüße Stimme und hätte am liebsten die Straßenseite gewechselt. Zu spät.

"Na, du schaust ja guat aus", meinte die Sellinger und ließ den Blick demonstrativ von Gertrauds Scheitel bis zur Sohle wandern.
"Wie geht’s eam denn, dem Krebs?"
Ich weiß nicht, dachte Gertraud und fühlte wieder den heißen Zornklumpen tief in der Kehle. Fragst ihn halt selber!

Zu dem Zorn gesellte sich dann auch ein dumpfes Gefühl von Kränkung.

Keine Ahnung, ich halte nicht Zwiesprache mit dem Krebs.
Weder das eine noch das andere sagte sie der Sellinger. Stattdessen: "Danke, mir geht’s gut."
Mir. MIR. Siehst du eigentlich MICH? Oder nur den Krebs?
"Na, das ist ja fein", tönte die andere Frau und Gertraud glaubte ihr kein Wort. Außerdem wusste sie, dass da noch was kommen würde. Und so war es auch.

"Sei froh, wennst keine Metastasen kriegst, weil dann ist es aus."

Mit diesen Worten ließ die Sellinger sie stehen und schlenderte weiter zur Trafik, um sich die neuesten Zeitschriften über royale Skandale zu kaufen.

Hätte ich lieber sterben sollen?
Manchmal fragt sie sich, ob den Klatschmäulern und Tratschtanten das lieber gewesen wäre. Das wäre spannender und sensationeller als eine langweilige Gesundung gewesen.
Sie haben Angst, dass es ihnen auch passiert.

Mit diesem Gedanken tröstet sich Gertraud dann und fast ist es so, als nähme sie zum Beispiel die Sellinger damit in Schutz. Aber das will sie auch nicht, und dann gelingt es ihr manchmal auch, mit erhobenem Haupt ihren zwar angeschlagenen, aber doch wieder gesunden Körper von A nach B zu bewegen und damit zu zeigen: Ich habe mehr geschafft als ihr alle zusammen.


Aber oft gelingt ihr das nicht. Der Krebs hat auch Spuren in der Psyche hinterlassen. Sie macht sich schneller wegen etwas Sorgen – nicht nur um sich selbst, sondern zum Beispiel auch, ob ihre Nichte von der Maturareise gesund wieder nach Hause kommt. Und sie hat oft Angst. Angst, die nicht wirklich greifbar ist. Das versteht keiner, und das sieht auch keiner. Fast keiner.

 

 Das Schlimmste für Gertraud war einmal ein Friedhofsbesuch.

Sie kümmert sich gern um Gräber von Verwandten, zupft das Unkraut und pflanzt neue Blumen.
Als sie da also in der Wiese neben dem Grab kniete und in der Erde grub, hörte sie von hinten eine beschwingte Stimme:
"Na, machst du dir schon dein eigenes Grab hübsch?"
Gertraud war vor Schock und Schmerz fast die Luft weggeblieben. Die Stimme war ihr bekannt vorgekommen, aber sie wollte der dazugehörigen Person nicht in die Augen schauen. Sie schämte sich dafür, dass sie sich davon so getroffen fühlte… es nicht einfach von sich abperlen lassen konnte.
Dabei – das wusste sie – war es eigentlich an der anderen Person, sich schämen zu müssen. Aber da hoffte sie wohl  vergeblich.


Gertraud ging später nach Hause und weinte über soviel Häme und Unmenschlichkeit, und erst lange, nachdem ihre Tränen getrocknet waren, gelang es ihr wieder allmählich, sich von solchen Aussagen und Verhaltensweise einigermaßen zu distanzieren.


Das sagt nichts über mich aus … das sagt etwas über sie aus.

Manchmal greift Gertraud zum Telefonhörer und ruft Nora an. Nora ist fünfundzwanzig Jahre jünger, hat ganz andere Interessen und wohnt viele Kilometer weit weg. Aber Nora weiß, was in Gertraud vorgeht. Etwas Besonderes  verbindet sie beide. Sie waren damals, vor ein paar Jahren, im gleichen Spital und im gleichen Zimmer - und bekamen am selben Tag ihre jeweils erste Chemo.


Nora war zwei Tage später als erste entlassen worden. Bevor sie ging, ließ sie ihr einen schönen Spruch da, den Gertraud bis zum heutigen Tag nicht vergessen hat.


"Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich."


Und damals, als sie beide noch am Beginn von allem standen, war die Angst so groß, aber dieser Satz war so tröstend. Gertraud hatte ein bisschen geweint und Noras Hand fest gedrückt.
Die Freundschaft hat – auch wenn beide sich nur selten sehen – bis heute Bestand.
Manchmal plaudern sie am Telefon einfach über dies und das, zum Beispiel über Noras neue Ausbildung. Aber hin und wieder erzählt Gertraud ihr auch von den Erlebnissen im Wartezimmer oder am Friedhof.
"Nimm es dir nicht so zu Herzen", sagt Nora dann, macht aber auch gleichzeitig ihrem Ärger Luft. "Blöde Kühe!"
Gertraud muss dann lachen, und mit einem Mal ist alles wieder ein bisschen leichter.


Aber genau genommen ist es so, dass sie die jüngere Freundin meist nicht mit ihren Sorgen und ihrem Schmerz belasten will. Daher ist es eher die Ausnahme, dass sie einmal mit einer solchen Geschichte herausrückt.
Das hat mit ihrer Generation zu tun, weiß Gertraud.

So ist sie aufgewachsen.

Die Zähne zusammenbeißen und aushalten.
Aber trotzdem hat sie vieles gelernt. Ob nun mit Noras Hilfe oder durch ihre eigene Erfahrung, eine lebensbedrohliche Erkrankung überstanden zu haben.
Sie weiß, dass sie vielleicht nie die Fähigkeit haben wird, sich durch Kränkungen und Tratsch nicht beeinflussen zu lassen.
Sie weiß, dass sie auch durch den Krebs nicht plötzlich zu einer strahlend starken, unverwundbaren Person geworden ist, die plötzlich weiß, worauf es im Leben ankommt.
Sie hat sich einfach immer schon etwas schwerer getan, mit allem. Und durch die Krankheit noch mehr.
"Du musst froh sein, dass du lebst. Sei demütig", hat ihr mal ein wohlwollender Mensch gesagt und es fast wie eine Rüge wirken lassen.


Ja, denkt Gertraud jetzt, greift den Einkaufskorb fester und schließt die Haustür hinter sich.
Es heißt immer, man wird ein anderer Mensch, genießt das Leben ganz anders, wirft Ballast ab.
Viele sagen das und es ist, als müsse es so sein… und wenn es nicht so ist, dann stimmt was nicht.


Gertraud ist kein anderer Mensch. Sie ist nicht stärker geworden, sondern ängstlicher. Nicht in allen Belangen, aber in vielen. Und sensibler. Heute kann sie sich gegen die Sellingers dieser Welt einfach nicht mehr so gut behaupten. Das ist halt so.
"Das ist halt so", sagt sie oft zu Nora am Telefon.
"Das ist halt so", flüstert sie auch jetzt leise zu sich, während sie über den schmalen Kiesweg in ihrem Garten geht.
Und dann sieht sie hoch zum Himmel und bemerkt, was viele Menschen in ihrer Geschäftigkeit gar nicht mehr bemerken: Die Sonne blinzelt hinter einer Regenwolke hervor. Gertraud hebt ihr Kinn und spürt den warmen Schein auf ihrem Gesicht.

Danke, denkt sie.

 

 

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Gertraud, Nora und all die anderen gibt es wirklich - sie heißen nur anders.
Auch, was Gertraud erlebt hat und erlebt, ist wahr.

 

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