Lokus

Auch wenn sich bei euch bestimmt schon der Verdacht regt, dass ich eine Art Toiletten-Fetisch hege und pflege, weil ich schon wieder das Klo zum Thema mache (wie bereits bei diesem Beitrag) - es ist alles bloß Zufall.

 

Wie ich zu dem komme, was ich schreiben will, das ergibt sich oft spontan. Das habe ich mal erwähnt.
Ein kurzer Impuls im Alltag reicht aus, und schon ist die Idee geboren.

 

So wie vor ein paar Tagen, als ich in der Arbeit den ganz normalen Vorgang des Toilette-Aufsuchens beschritt, und "mitten drunter" gerufen wurde, weil ein Kunde auf meine Dienste wartete.

 

"Ja, ich komm' gleich", rief ich.

 

"Hat man nicht mal HIER seine Ruhe?" dachte ich.

 

Ruhe. Das ist das passende Wort.

 

Es muss nicht mal um ausgedehnte Sitzungen gehen (das "ausgedehnt" ist hier bitte nicht wörtlich zu nehmen) - manchmal sind auch schon ein paar wenige Minuten Abgeschottetsein im Alltagstrott wie Balsam für die Seele. Auch wenn der Ort ein schönerer sein könnte, aber man will ja nicht wählerisch sein.

 

Ein paar kostbare Habt's-mich-alle-gern-Minuten auf dem Porzellanthron lassen uns neue Kräfte sammeln - egal ob man Business-Mensch ist, vielbeschäftigte Mutter (oder beides) oder sonst jemand, an dem viele Individuen gleichzeitig zerren.

 

Hier. Kommen. Sie. Nicht. Rein.

 

Tatsache.

 

Im Herbst 2012, als ich mit meinen frischen Diagnosen im Krankenhaus lag, war Alleinsein und "ein paar Minuten für sich haben" allerhöchstes Gut - und dementsprechend selten.
Vor allem an den Wochentagen geht es in so einer Klinik zu wie im Bienenstock. Tür auf, Tür zu, Tür auf, Tür zu, Schwestern, Ärzte, Besucher, Putzfrau.

 

Wenn man gerade seinen (trüben) Gedanken nachzuhängen und hochkomplizierten Gedankengängen zu folgen versucht: Tür auf, Schwester.

"Frau S., wir müssen den Essensplan für nächste Woche noch eingeben."

Obwohl es mir gerade egal ist, ob ich Mittwochfrüh Leberwurstaufstrich oder Erdbeermarmelade auf die Semmel haben möchte. (Man kann nicht fassen, wie fürchterlich einen solche banalen Entscheidungen quälen können, wenn sie einem abverlangt werden... wo man doch eigentlich ganz andere Probleme hat. Das ist übrigens nicht sarkastisch gemeint.)

 

Wenn man gerade von besagter Frühstückssemmel abbeißen will: Tür auf, Frühvisite.

"Frau S., wir schauen uns jetzt das Haut-Transplantat an. Übrigens, wenn die Wunde nässt und nicht gut riecht, das ist normal."

Tja, da ist dann auch die Lust auf Leberwurstaufstrich verpufft...

 

Wenn man gerade Müdigkeit und Erschöpfung zulässt und nur noch wenige Sekunden zum Wegdösen verbleiben: Tür auf, Putzfrau, Staubsauger. Möööööööööhhhhhh....

 

Wenn man gerade so richtig mies drauf ist und ausnahmsweise weinen will: Tür auf, Bettnachbarin bekommt Besuch von 10-köpfiger Familie.

Hat sich auch das erledigt.

 

Wie schön das ist, wenn man die Klotür hinter sich zusperren kann und wirklich RUHE hat. Man muss ja gar nicht auf dem Klo hocken. Man kann sich auch minutenlang im Spiegel anstarren, das Gesicht waschen, Fingernägel schneiden oder in die Luft schauen.

Hauptsache ein paar Minuten alleine sein.

 

Als ich wegen der Melanom-OP 10 Tage mit dem Bein nur in der Waagrechten verbringen durfte, war es - wie ich bereits einmal beschrieb - eine Wohltat und erfüllte mich mit viehischer Freude, dass ich mich den Anordnungen von Ärzten und Schwestern zu widersetzen wagte und mit Rollstuhl und hochgelegtem Bein ALLEINE UND OHNE HILFE zum WC fuhr und später wieder zurück. Vom Bett raus und ins Bett rein ohne Hilfe.

Es war ein Triumph und schenkte mir nach der Kontrollverlust-Abfahrt der letzten Tage wieder ein Stück Autonomie. I'm a rebel.

 

Wobei man sagen muss, dass besagtes Klo ein verhältnismäßiges Luxus-Klo war - war es doch gerade mal für 3 Patienten vorgesehen und als eigenständiger Raum IN dem Zimmer untergebracht. An Wochenenden, wenn die schönheitsoperierten Anwaltsgattinnen wieder zu Hause waren, hatte ich sowohl Krankenzimmer als auch Häusl für mich allein. Das war wonnige Freude in düsterer Zeit.

 

Ein paar Monate später, auf der Chirurgie (die Mastektomie stand an), gab es unverständlicherweise nur ein Gang-WC auf der ganzen Station. Na gut, es gab ZWEI davon - allerdings war das zweite ein Bad-WC, und es ist nicht angenehm, sich mühsam die Kodan-Lösung (ihr wisst schon, das orangefarbene Desinfektionsmittel) von der Haut zu waschen oder die Haare zu föhnen, wenn man den Arm nicht gut heben kann... und draußen warten schon weitere Entleerungs- und Duschwillige.

 

Apropos Entleeren.

Ich gewöhnte mir schnell an, zu den Sitzungen, bei denen man mehr Zeit braucht, nach außen "auszuweichen". Vor allem an Wochenenden. Da war es himmlisch, ein blank geputztes, riesengroßes Deluxe-Klo in der Schilddrüsen-Ambulanz oder in der Onko-Tagesklinik einzelbevölkern zu dürfen, weil sich dort keine Menschenseele hinverirrte. Die Ambulanzen waren ja schließlich zu.

 

Da konnte man sich eine Viertelstunde gepflegt zurückziehen und anschließend mit einem Becher Automatenkaffee in der einen und den Drainage-Beuteln in der anderen Hand zufrieden und erleichtert wieder auf die Station zurückmarschieren.

 

Auf der "Heimat-Abteilung" selbst konnte einem im Gegensatz dazu manch unangenehme Überraschung erwarten, wenn man früh morgens um 4 Uhr mal austreten musste. Der markige Ausspruch "Scheiß die Wand an" war nämlich etwas, das jemand kurz vorher wörtlich genommen haben dürfte.

Also Tür wieder zugeworfen (als Überraschung für den Nächstkommenden) und wieder auf die Schilddrüsen-Ambulanz ausgewichen.

 

Wahrscheinlich hat mal jemand ausgerechnet, wieviel Zeit unseres Lebens wir auf dem Lokus verbringen. Ich bestimmt 3x soviel wie der Durchschnitt.

Multipliziert hat sich alles während meiner nächtlichen Sessions in der Chemo-Zeit, als meine geplagten, wunden Darmzotten alles sofort loswerden wollten, was sich tagsüber angesammelt hatte. Was dann auch schon mal 2-3 Stunden dauerte, und ich verbrachte die Zeit lesend ... damals noch ohne Brille. Nur auf der Klobrille eben.

 

In der Gegenwart bleibt meine (Hamster-)Blase vielbeschäftigt, gerne auch ca. 2x in der Nacht - thank you very much, Antihormontherapie.

 

Ihr seht, das Klo ist ein heiliger Ort. Vor allem für mich.

Ich kann dort in die Luft schauen, nachdenken, singen, Einfälle haben, Ruhe zelebrieren und drauf scheißen.

Dabei wird das heimische Örtchen selbstverständlich bevorzugt. Das ist groß genug, damit ich mir - im Gegensatz zu öffentlichen WCs - beim Türeschließen nicht die Kniescheiben breche und ich kann mich auch HINSETZEN.

 

Es sind die kleinen Freuden des Lebens.

 

Schätzt sie.

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