Der Lehrbua am Damenklo

"Bist du ein Bub oder ein Mädel?"

 

Gibt es eine Frage, die man mir öfter gestellt hat, als ich noch ein Kind, halbwüchsig oder sogar bereits erwachsen war?

Nein.

Die Dinge dürften von vornherein einfach nicht unbedingt klar gewesen sein.

 

In diesem Fall bin ich vielleicht 8 oder 9 Jahre alt, mit Eltern und Freunden auf einem Ausflug, und gerade machen wir Rast auf einer Jausenhütte mit großer Spielwiese und Bänken und Tischen im Freien.

Ich sehe aus wie immer (siehe Foto links - vermutlich sind die Haare kürzer) und mache das, was ich immer mache: Herumlaufen, mich im Dreck wälzen, Stecken schnitzen, Fangen spielen, Fußball spielen.

Was man halt so tut in dem Alter. Wenn man nicht unbedingt gesittet, mit der Kulleraugen-Puppe auf dem Schoß, neben den Erwachsenen sitzt und ab und zu durch den Strohhalm vom Himbeer-Keli schlürft.

Ich erlebe also wie immer meine freien, kindlichen Abenteuer, taxiere mir fremde Kinder mit Blicken und werde selber taxiert.

Und dann kommt eben die Frage von einem etwa gleichaltrigen, fremden Mädchen.

 

"Bist du ein Bub oder ein Mädel?"

 

Ich zögere nur kurz.

"Ein Bub", sage ich und verdrehe minimal die Augen (so nach dem Motto: "Ernsthaft? Liegt das nicht auf der Hand? Bist du vielleicht blind?").

Das Mädchen sieht mich fast bewundernd - aber auch ein wenig irritiert - an, und ich straffe fast unmerklich die Schultern, grinse schief, wende meinen knabenhaften Körper ab und beginne wieder dem Ball nachzujagen.

 

Ich bin ein Bub.

Es ist prickelnd und spannend, wenn man sich einfach so für jemand anderen ausgibt. Vor allem ist es gefahrlos und ich drohe ja auch nicht aufzufliegen.

 

Jedenfalls, bis ich auf die Toilette muss.

 

Es gibt zwei davon - zwei schmale Hütten, direkt nebeneinander. Mann-Symbol an der linken Tür, Frau-Symbol an der rechten Tür. Mitten auf der Wiese, wo wir die ganze Zeit schon spielen.

Mit großen lässig-jungenhaften Schritten laufe ich auf die WCs zu - und beginne innerlich zu straucheln.

 

Jetzt muss ich "für Jungs" gehen - sonst bin ich geliefert.

Aufgedeckt.

Bloßgestellt.

Ich spüre die Blicke des Mädchens, das mich zuvor gefragt hat, beinahe auf meinem Rücken.

(Vermutlich bilde ich mir das aber eher ein.)

Dennoch: Ich öffne beherzt die MANN-Klotür, als wär es das normalste auf der Welt, und schließe sie hinter mir.

...

Und vergesse abzusperren.

 

Wenigstens bleibt mir die Schmach erspart, die Hose bereits heruntergelassen zu haben, als Sekunden später ein Freund meiner Eltern die Tür aufreißt, weil er selbst ein dringendes Bedürfnis verspürt.

Soweit bin ich noch nicht gekommen.

Aber auch so schäme ich mich in Grund und Boden, als Onkel W. belustigt zu grinsen beginnt, und ich mit mit meinen knochigen Knien zittere, während ich so dastehe und von unten mit großen Rehaugen zu ihm hinaufstarre.

"Was machst denn DU da?"

Ich habe das Gefühl, jeder glotzt zu mir her und sieht das Mädchen auf dem Männerklo.

Das stimmt aber gar nicht - nicht mal die Fragestellerin von zuvor ist noch zu sehen - aber es ist dennoch eins der peinlichsten Dinge, die ich in meinem jungen Leben bisher durchmachen muss.

 

Besser, ich gewöhne mich rasch daran, denn es begleitet mich auch noch Jahre und Jahrzehnte noch. ;-)

 

Bist du ein Bub oder ein Mädel?

 

Ich kenne es von meinen "wilden" Disco- und Clubzeiten geraume Zeit später, wenn ich - oft mit einem Gefühl von Genugtuung und boshafter Freude - in einen vollbesetzten Waschraum am Damen-WC platze, und - das ist jetzt bitte nicht gelogen! - durch die Haarspray-Schwaden eine Welle des Zusammenzuckens und großes Gekreische meinen immer noch cool-lässigen Gang zur WC-Kabine begleitet.

 

Es ist aber auch nicht immer spaßig und unterstreicht, dass ich nach wie vor höchst ungern auf öffentliche Toiletten gehe.

Ich werde da nämlich auch schon mal angefahren.

"Das ist ein Damen-WC!!"

"Sie sind hier falsch!"

Oder der Klassiker: Frau kommt rein - sieht mich - erschrickt - geht rückwärts und blickt außen auf die WC-Tür, um nachzusehen, ob SIE sich vielleicht geirrt hat.

Da kann es schon mal passieren, dass ich - wenn der stete Tropfen den Stein höhlt - etwas unwirsch reagiere und "Des waß i eh" auf die erste Entgegnung und "Des glaub i ned" auf den zweiten Einwurf parat habe.

Mir die Haare lang wachsen zu lassen, um solchen Situationen zu entgehen - dafür reicht's aber dann trotzdem zu 90% meines bisherigen Lebens nicht.

Nicht verbiegen: Marlies-Devise.

Schaut's halt genauer hin.

 

Jetzt ist aber das Ding:

Wenn mich die zu erwartenden Blicke bereits im Voraus nerven, dann ist Trick 17 fällig, um möglichst ungehindert, ohne Proteste auf das stille Örtchen zu entwischen:

Das heißt:

Busen raus.

Nicht wirklich raus, aber eben "rausstrecken" im Sinne von: Schultern zurück, Hohlkreuz, Oberweiten-Erahnungs-Präsentation. Sozusagen die Pamela Anderson-Gedächtnis-Pose.

Damit alles klar ist.

 

So.

Und dann bekommt die Marlies den Krebs, und plötzlich ist gewissermaßen eine "Eintrittskarte" eingebüßt.

Es gibt nix mehr rauszustrecken.

Ich kann den Brustkorb nach vorne biegen, wie ich will - damit mache ich mich jetzt erst recht höchst verdächtig.

 

Gut, ich kann wie eine französische Gouvernante, mit hoher Stimme hüstelnd, an den händewaschenden Geschlechtsgenossinnen vorbeimäandern und dabei hoffen, dass ich nicht wieder für einen Kerl gehalten werde, der zu blöd ist, um das Männchen-und-Weibchen-Symbol richtig zu entschlüsseln. Das sagen sie nämlich hin und wieder - diese Blicke...

 

...die mir manchmal egal sind.

Manchmal aber auch nicht.

Oft bin ich dann auch die pseudo-schlagfertigen Antworten auf die Verdachts-Vorhaltungen leid.

Das Witzchenmachen hinterher, wenn die Damen ihren Irrum bemerken, sich stammelnd entschuldigen und ich gnädig abwinken darf. ("Macht ja nichts. Passiert mir öfter. Hihi!")

 

Doch wie wir alle wissen: Das Leben findet ja zum Glück nicht am Klo statt.

Die Verwechslungen passieren jetzt ja auch nicht an allen Ecken und Enden und zu allen Gelegenheiten.

Es ist nicht so, dass ich von peinlicher und unangenehmer Situation zur nächsten stolpere.

Die gibt es auch, und zum Glück bin ich in dem Fall innerlich so stabil, dass mich das nicht verletzt.

 

Wie bei einer etwa gleichaltrigen Dame, die ich in der Arbeit bediene, und die ohne Punkt und Komma und total aufgekratzt redet - ja, fast quasselt.

Frauen kennen vermutlich diese völlig unpassenden, humorvoll-verallgemeinernden Mädels-wie-wir-Ansagen und eine Vertraulichkeit, von der man nicht weiß, warum man in deren zweifelhaften Genuss kommt.

Ich erledige gerade etwas für sie, und sie sieht mir zu, unterbricht ihren beliebigen Redefluss selbst und sagt:

"Sie haben obenrum ja auch nicht gerade viel. Ich kann Ihnen was von mir geben."

Sie lacht gackernd, völlig eingenommen von ihrem voll originellen Witz.

"Tja, ich weiß", sage ich, weiter in meine Arbeit vertieft und ohne besonderen Ausdruck in der Stimme. "Das ist, weil ich Krebs hatte."

Wahrlich nichts, was ich jedem sofort auf die Nase binde, aber in diesem Fall will ich die Frau ein wenig konsternieren.

Ich mach's kurz: Klappt nicht - sie hört nicht mal zu - und redet weiter... und redet....

 

Aber abgesehen von diesen Na ja-Momenten, ist meine optische "Zwitterhaftigkeit" auch hin und wieder mal lustig, und ich habe Lacher und Running Gags auf meiner Seite.

 

... Wenn ich zum Beispiel in der einsehbaren Werkstatt in meinem Ausbildungsbetrieb stehe, mit meinen stachelig-wirren Haaren und tätowierten Unterarmen, ein ehemaliger pensionierter Arbeitskollege von meinen Kollegen zu Besuch kommt, einen kurzen Blick in meine Richtung wirft und - an die anderen gerichtet - wissen will:

 

"Habt's ihr jetzt einen Lehrbuam?"

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0