Es erfordert Mut, sich zu zeigen

Die kleine Stadt Wilhelmsburg im zentralen Niederösterreich, Anfang der 80er-Jahre.

M., ein Mädchen von damals etwa 8 Jahren, hat sein erstes großes Klavierkonzert.

... Okay, das mag etwas übertrieben sein, genau genommen.

In Wahrheit ist es eine kleine Veranstaltung der örtlichen Musikschule, bei dem Kinder ihre Künste an der Blockflöte, Gitarre oder eben Klavier einer kleinen Elternrunde präsentieren.

Die kleine M. hat erst seit einigen Monaten Unterricht, aber sie wagt sich heute voller Stolz an zwei weltbekannte Klassiker:

"Brüderlein fein" und "Lang, lang ist's her".

 

M. hat viel geübt, kann die Stücke auswendig, sitzt aber jetzt trotzdem stolz und mit klopfendem Herzen da und versucht das hüstelnde und mit den Hintern auf den unbequemen Stühlen wetzende Publikum gedanklich auszublenden.

Mit leicht ungelenken Bewegungen wandern die kleinen Kinderfinger über die weißen Tasten. Das erste Lied ist schon zur Hälfte durch - da passiert ein Spielfehler. Und dann noch einer.

Und dann... plötzlich... stockt alles.

Das kleine, damalige Mädchen sitzt da wie das Kaninchen vor der Schlange (=Klavier) und findet plötzlich den Wiedereinstieg nicht mehr. Die Spielfehler haben es so verunsichert, dass sämtliches, mühsam zusammengekratztes Selbstvertrauen (ohnehin nicht eine Parade-Eigenschaft von M.) in sich zusammenfällt.

Das Herzklopfen steigert sich, M. sitzt bewegungslos vor dem Klavier, es herrscht ohrenbetäubendes Schweigen.

Bis sich irgendwann, zaghaft die Hände wieder auf die Tastatur legen und das zweite Lied angestimmt wird.

Es findet fehlerfrei sein Ende, aber der Zauber des Anfangs, der ganze Stolz - all das ist weg.

Es ist alles so... PEINLICH.

Das Mädchen M. steht hinterher auf, so wie es vorher geübt wurde, stellt sich vor das Publikum und verneigt sich mit vor vor Scham brennenden Wangen und bestimmt hochrotem Kopf.

Peinlich.

Und trotzdem die Verneigung.

Muss ja.

 

Es erfordert Mut, sich zu zeigen.

 

Winter, ebenda, Anfang der 80er.

Die Weihnachtsferien sind wahrscheinlich blendweiß vor lauter Schnee, wie es damals eben noch üblich war.

Das nicht fehlerfrei spielende Mädchen M. macht etwas anderes viel lieber: Schifahren.

Wie sonst auch nach der Schule und nun am liebsten jeden Tag, schultert M. ihre Schi und macht sich zu Fuß auf, um zehn Minuten zum Berghang hinterm Ortsteil Bösendörfl zu pilgern.

Hier treffen sich viele Kinder aus der Stadt, schnallen die Bretter an und besteigen den Hang querkant oder im V-Stil (was viel anstrengender ist).

Wie die Halbwüchsigen aussehen, was sie tragen - das ist alles nicht so wichtig. Eine unausgesprochene Regel besagt jedoch: Deine Schi... die müssen die "richtige" Marke haben. Keiner spricht darüber, keiner lacht den andern aus, aber insgeheim weiß jeder:

"Atomic" sind super.

"Blizzard" (wow!) noch viel superer.

"Fischer" hingegen sind nicht cool (das Wort gab's damals nicht, aber heute würde man es verwenden).

Ihr könnt euch natürlich denken, was jetzt kommt:

M. wirft gerade ihre Schi in den Schnee, macht sorgfältig die Bindung frei vom Pulverschnee und schnallt ihre Schuhe fest. Sie blickt nach unten auf ihre Schi. Sie sind weiß mit rotem Gittermuster und einem Logo, bestehend aus drei aufgetürmten Dreiecken.

Es sind Fischer-Schi.

 

Ihre Eltern haben sie ihr gekauft, ohne etwas von der goldenen, unausgesprochenen Regel zu wissen, und obwohl es seitens der Kinderschar keine Repressalien und keine Hänseleien gibt, ist sich M. ihrer nicht standesgemäßen Fischer-Schi jedes Mal SEHR bewusst.

Sie liebt sie, weil sie genauso toll und schnittig fahren wie die andern auch, und weil sie sie bei jeder Schussfahrt und jedem Mini-Schanzensprung nie im Stich lassen... und weil sie eh keine andere Wahl hat. (Sie weiß nicht, dass sie in späteren Jahren noch Atomic-Schi bekommen wird.)

Aber dennoch kostet es sie immer ein klein wenig Überwindung sie anzuschnallen, weil die anderen Kinder ihre Schi ja auch sehen. Sie macht es trotzdem.

 

Es erfordert Mut, sich zu zeigen.

 

Kinder sind in so vielen Situationen, ob banal oder nicht, mit Neuem, Ungewohntem und teilweise Peinlich-Schamhaftem konfrontiert, dass sie über ihre kleinen Schatten hinauswachsen können oder einen (mehr oder weniger großen) Rückschlag des Scheiterns hinnehmen müssen.

Gedanken daran, was andere denken könnten, tauchen zum ersten Mal auf, und verlassen den noch kleinen Menschen oft ein Leben lang nicht mehr.

 

Ich war immer so ein Mensch, mit recht wenig subjektiv empfundener Stärke, mit wenig Selbstvertrauen.

Ich hatte oft Angst vor dem Scheitern und das habe ich noch.

Und dennoch war da immer wieder ein Ausschlagen des Zeigers, wie bei einem Geigerzähler... plötzlich ein immenser Vorstoß von Kraft und Mut, und ich wusste zeit meines bisherigen Lebens, dass ich mehr in mir trage, als ich mir bewusst bin - und manchmal kommt das an die Oberfläche.

Ohne "Rücksicht" auf die Denke anderer Menschen, ohne Rücksicht auf mögliche negative Auswirkungen.

Immer war Erhellendes die Folge, immer lernte ich etwas Neues über mich.

 

Ich bin niemand, der sich gern im Scheinwerferlicht sonnt.

Dennoch trat ich immer wieder drunter, im wahrsten Sinne des Wortes.

Karaoke.

Vor allem in den 90er-Jahren ein geflügeltes Wort in den Bars und Tanzschuppen der westlichen Welt.

Oldies, Pop-Songs und Raritäten ertönten auf Wunsch, und auf einem Monitor lief der Liedtext synchron zum Gesang mit - und den Gesang musste man selbst liefern ... mit allen "furchtbaren", damit verbundenen Risiken.

Viele Leute trauten sich das, obwohl kaum jemand mit seinem Geträller Christina Aguilera oder Elvis das Wasser reichen konnte, und manches Mal und manchen Ortes taumelten auch nur betrunkene Gestalten auf Dorfdisco-Bühnen herum, lallten "Griechischer Wein" oder "Myyyyy waaaaaay".

Natürlich gab es auch die Gesangstalente, die vom mehr oder minder interessierten Publikum bejubelt worden.

Ein solches Talent war ich zwar nicht, aber auch ließ mir regelmäßig das Mikro reichen.

Ich, obwohl ich ein "gebranntes Kind" war, was Auftritte betraf. Das vergaß ich hier aber, denn es war wahrscheinlich meine bevorzugte Art von Expressionismus, der mir sonst im Alltag fehlte.

Ich sang querbeet. Am liebsten "More Than Words" von Extreme, aber auch Prince, sogar Joe Cocker (!), Cyndi Lauper (nein, nicht "Girls Just Wanna Have Fun") und Led Zeppelin.

Ich sang nicht gottgleich, aber doch gut genug, um nicht von der Bühne gebuht zu werden.

Für mich war's ein Kick, den ich sonst im Sinne der Öffentlichkeitswahrnehmung nicht brauchte, und vermutlich ging es mir auch um den besonderen Kitzel der ersten Sekunden, wenn ich das Mikrofon übernahm und das Lied begann.

 

Es erfordert Mut, sich zu zeigen.

 

Als ich Krebs hatte, dachte ich auch an Mut.

Aber weniger daran, ihn irgendwie aufbringen zu müssen, sondern an den, der von vornherein schon da war. Denn das hatte ich nicht gewusst.

Als die Therapie begann, war mir klar, dass man das irgendwann sehen würde, aber ich hatte kein Problem damit, mich dieser Tatsache zu stellen. Bei mir war es so... sehr vielen geht es anders, ich weiß.

Der Verlust der Haare war - wie hier im Blog allgemein bekannt ist - kein Problem für mich.

Dennoch kostete es auch mich hin und wieder ein wenig Überwindung, mich in der Öffentlichkeit ohne Kopfbedeckung zu zeigen. Weil man die Krankheit als solches dann eben sah.

Praktischerweise war damals aber Winter, und es bestand aufgrund der niedrigen Temperaturen keine Notwendigkeit, Kappe oder Haube herunterzunehmen (und es kann am Kopf tatsächlich SEHR kalt werden ohne Haare).

Dennoch erinnere ich mich an eine ganz gewöhliche Situation in einem indischen Restaurant, das ich mit meiner damaligen Freundin besuchte, und dass ich die Kappe vom Kopf nahm, weil sehr warm eingeheizt war.

Ich ging mit meiner Vollglatze zum Buffet und holte mir mein Essen.

Niemand schaute mich an, und ich konnte den Anflug von Unsicherheit erfolgreich verdrängen.

Es waren nur banale Augenblicke ohne besondere Bedeutung, und dennoch brauchte ich etwas Überwindung.

 

Es erfordert Mut, sich zu zeigen.

 

Wer es nicht schafft, die Kappe oder Haube abzunehmen, ist deswegen dennoch nicht weniger mutig.

Wer es nicht schafft, jeden im Umfeld einzuweihen oder von der eigenen Befindlichkeit und den Bedürfnissen zu berichten, ist deswegen nicht feige.

Wer sich an manchen Tagen kraftlos, verzagt und traurig fühlt, hat deswegen seinen Mut noch lange nicht verloren.

Krebs zu haben, bedeutet IMMER, Mut zu haben, auch wenn man ihn nicht immer fühlen kann.

Denn man stellt sich auf irgendeiner Weise der Situation, arrangiert sich unbewusst oder bewusst, macht Abstriche, erfährt Neues über sich, wirft manchmal die Zuversicht ab, gewinnt sie aber wieder neu... es ist eine einzige Berg- und Talfahrt (und es zählt nicht, ob die Schi "cool" sind oder nicht).

Krebs fördert Mut zu Tage und erschafft neuen, alleine aufgrund der Umstände.

 

Es erfordert Mut, sich zu zeigen - auch mit einer Krebserkrankung. Hier ganz besonders.

Und manchmal - und das halte ich für ganz wichtig - erfordert es auch Mut sich einzugestehen, dass man sich gerade nicht zeigen kann. Dass man gerade am Boden ist und Kraft sammeln muss, um wieder aufzustehen.

Egal, wie der Mut geartet ist - es gibt ihn.

Er ist immer auf unserer Seite.

 

Als kleines Mädchen M. wusste ich damals schon irgendwie, dass Mut mich immer begleiten und ich ihn in Anspruch nehmen konnte, wenn ich ihn brauchte. In dramatischen (Klavier) und weniger dramatischen (Schi) Situationen, zum Beispiel.

Später im Erwachsenenleben umso mehr.

 

Jetzt, auf meinem neuen Weg, den ich als Mann gehe, der noch nicht "fertig" ist und - unter Umständen - vielleicht auch nicht "fertig" begangen werden kann, brauche ich den Mut ebenso, jeden Tag.

Nicht nur wenn ich auf's Männerklo gehe, um ein wieder scheinbar banales Beispiel zu bemühen.

Es bedeutet, mich dem auszusetzen, dass ich mich nicht jeden Tag "männlich genug" fühle, dass ich mit verschiedenen, ans alte Leben erinnerlichen Dingen hadere (sei es von Außen oder von Innen an mich herangetragen) und dass ich dennoch weiter auf dem stolperigen, mit Hindernissen gesäten Weg gehe, unbeirrt (oder na ja... meist unbeirrt).

Sonst hätte ich ja auch auf dem blinden, unscharfen Verdrängungsweg der vergangenen Jahrzehnte bleiben können.

 

Es erfordert Mut, sich zu zeigen.

 

Aus vollem Herzen: JA.

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    s (Samstag, 09 Dezember 2023 12:16)

    BRAVO