Frei

Wie eine Woge fließen hundert verschiedene Stimmen, in unterschiedlichen Tonlagen, über die Köpfe der Zuhörenden hinweg und füllen jeden Winkel des Raumes - des Konzerthauses - aus.

 

Ach Gott, nein, Poesie geht anders, kann ich irgendwie nicht.

Versuchen wir es noch einmal.

 

Wir singen sorgsam und leidenschaftlich geübte Lieder, zeitgenössisch, folkloristisch oder auch traditionell. Wir - das sind die "United Voices" der Musikschule Linz, und ich bin ein Jahr lang ein Teil davon.

Auch ich habe fast permanent die Melodien im Kopf, von "Rise Like A Phoenix" bis "Bohemian Rhapsody" und sogar ein traditionelles Lied der orthodoxen Roma - "Ederlezi".

(Auf die Links dürft ihr ruhig klicken - ich sehe sie mir immer wieder gern mit viel Stolz und Freude an.)

 

Ich stehe da oben, links hinten, singe mit Altstimme und fühle eine unglaubliche gemeinschaftliche Energie, die sich auch prompt auf das Publikum überträgt. Somit hat sich das stundenlange Üben an vielen Abenden ausgezahlt.

 

... Und ich vergesse dabei immer wieder, dass ich mich eigentlich kaum rühren kann.

Mich plagt eine Brustwirbelblockade, zum wiederholten Mal, und sie spitzt sich ausgerechnet am Abend der Aufführung im Brucknerhaus so zu, dass ich ziemlich große Schmerzen habe, denen ich mit Tabletten beizukommen versuche.

Sie helfen allerdings nicht gegen das unangenehme, einschnürende Ziehen rechts rund um den Brustkorb - vom Brustbein bis zum unteren Ende des Schulterblatts.

Beim Singen ist es mir völlig egal. Ich hole Luft, immer wieder, und schmettere die Noten hinaus, und mein Brustkorb weitet sich trotz des unsichtbaren "Korsetts" wie von selbst.

Ich bade im Glücksgefühl des erfolgreichen Auftritts und kümmere mich erst danach - einfach erst danach - um meine körperliche Pein.

 

Wie schon zwei oder drei Mal zuvor weiß ich, dass mir nur mein Lieblings-Physiotherapeut im malerischen niederösterreichischen Yspertal punktgenau helfen kann, indem er meine Blockade löst und mir so Erleichterung verschafft... bis zum nächsten Mal. Dafür nehme ich dann auch gern fast zwei Stunden Fahrt mit dem Auto auf mich.

 

Zeitsprung.

Das war 2016, mehr als drei Jahre nach dem Krebs.

Ich war jünger, vertraute dem Leben nach wie vor nicht ganz, ein ganz besonderer Mensch (B.) war noch unter uns... stand neben mir, spürte die gleichen euphorischen Gefühle, strahlte und bewunderte in den Minuten vor dem Auftritt meine neu gekaufte schneeweiße Hose.

B. ist heute nicht mehr da... hat eine große Lücke hinterlassen, vor allem für Ihre Söhne.

 

Meine Brustwirbelblockade... meine Güte, wenn ich das so schreibe - wie lächerlich das klingt im Vergleich dazu.

Ich wusste so wenig... B. auch... wir alle.

 

Ich laborierte an vergleichsweise harmlosen "Nebenwirkungen" der Krebstherapien, auch Jahre später noch, und dazu gehörten eben auch die damals von mir gefürchteten Brustwirbelblockaden.

 

Warum hatte ich sie überhaupt und immer wieder?

 

Mir hat es niemand so deutlich gesagt, aber meine eigene Theorie ist eine rein physikalische (wobei man natürlich auch psychosomatische Ursachen nicht ausschließen sollte):

Ich hatte eine Brust gehabt - eine GROSSE noch dazu - und dann war erst die eine weg und dann die andere.

Was macht denn das mit einer Wirbelsäule und ihrer Statik?

... Genau, sie muss sich erst neu "ausrichten", um das fehlende Gewicht auszugleichen.

Ich stellte mir das bildlich so vor, dass die Brüste den Oberkörper etwas nach unten "gezogen" hatte, und dann "katapultierte" der sich in Zeitlupe nach "oben" und zog sich dabei eine Wirbelblockade nach der anderen zu.

 

In den schlimmsten Zeiten wusste ich nicht, wie ich liegen sollte.

Ich wusste nicht, wie ich richtig ein- und ausatmen sollte, ohne scharfe Schmerzen zu spüren (also atmete ich zumeist flach).

Ich hatte zwischenzeitlich auch unglaublich starke Ängste vor möglichen Knochenmetastasen.

 

Heute - nichts mehr. Keine Blockade mehr seit einer halben Ewigkeit.

Mein Körper hat sich umgestellt, umgewöhnt.

Keine Blockaden mehr, auch wenn ich es immer noch nicht schaffe, mich zumeist richtig aufrecht zu halten, nicht "herumzubuckeln" und tiiiiief und weiiiiit ein- und auszuatmen.

Vermutlich habe ich mir unbewusst auch das flache Atmen antrainiert... zumindest zeitweise.

 

Atmen hat auch mit einem Gefühl von Freiheit zu tun, und wenn man so will und doch auf die psychosomatische Schiene auffahren will, dann könnte es schon sein, dass ich mich in mehr als einer Hinsicht gefangen fühlte, eingeschlossen mit mir selbst und in mir selbst und in meinem Leben, mit meinen Möglichkeiten, Träumen und Wünschen.

 

Ich will nicht sagen, ich sei heute Trillionen von Lichtjahre weitergekommen als damals, aber hey - ein paar große Schritte vorwärts sind es schon gewesen.

Ich bin heute freier in vielen Belangen, und die größte steht übrigens unmittelbar bevor.

 

Morgen (bzw. heute, wenn ihr das lest) werde ich nicht an Blockaden denken - weder an körperliche, noch an selbst auferlegte - wenn ich nach einem frühen Termin auf dem Standesamt in Linz wieder ins Freie trete, mit einem offiziellen, gültigen Dokument in der Hand, und auf dem Dokument wird stehen, dass ich ICH bin.

Ein Mann mit dem Namen Marco, und dann schließt sich endlich der Kreis, wo ich vor mehr als fünfzig Jahren begann, als ich geboren wurde, als Mädchen mit dem Wesen eines Jungen... nur dass ich heute nicht mehr blind und unscharf und ahnungslos durch die Gegend laufe, sondern wissend, spürend, lebendig:

Das bin ich.

Das bin ICH.

 

Was soll mich dann noch blockieren und zu Boden ziehen, und wie kann ich anders, als es jetzt dann doch zu tun...

.... tief

... weit

... ATMEN,

 

denn ich bin

 

 

endlich FREI.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    sabine (Freitag, 13 Oktober 2023 08:37)

    Herzlichen Glückwunsch!!!�����