In sechs Tagen

21. Februar 2012 -

 

Ich öffne ein Auge, dann noch eins.

Meine Hand tastet nach dem Wecker, und die Beleuchtung verrät mir, dass es halb drei Uhr früh ist.

Meine übliche Zeit.

 

Ich seufze und richte mich langsam auf. Neben mir schläft meine Freundin. Ich kann fast sicher sein, dass sie nicht wach wird, wenn ich mein nächtliches Programm hinter mich bringe.

 

Mein nächtliches Programm beginnt erst mal damit, dass ich mich möglichst lautlos strecke und den Kreislauf ein wenig in Schwung bringe. Zumindest soweit, dass ich aufstehen und leise auf's Klo wanken kann.

Der Darm verlangt danach.

Leise... das ist relativ. Wer schon mal in einer Altbauwohnung mit Parkettboden gelebt hat, weiß das. Aber meine Lebensgefährtin schläft wie ein Stein. Die Glückliche.

 

Auf dem Weg zum Porzellanthron habe ich mir noch die neuesten Musikzeitschriften, mit denen ich regelmäßig die Zeit totschlage, mitgenommen.

Und dann sitze ich, fange zu lesen an... und zwar von ganz vorne.

Weitere Beschreibungen erspare ich euch natürlich, nur den Zeitfaktor kann ich nicht außer acht lassen, denn der ist erwähnenswert:

Es sind wieder zwei Stunden, in denen ich die Zeitschrift von vorn bis hinten durchlese (sogar jede Werbeanzeige), und zum Schluss sehe ich mir noch die an die Fliesenwand geklebten Ansichtskarten an.

Schweden in landschaftlichen Aufnahmen. Eines meiner Traumländer.

Damit habe ich mich beschäftigt, denn der Plan war mal, dorthin zu reisen und vorher sogar die Sprache zu lernen.

Aber dann bin ich ja blöderweise krank geworden.

 

Und hier sitze ich nun, mittlerweile verspannt und mit kalten Füßen. Aber immerhin dürften die Krämpfe nun vorbei sein.

 

Ich schleiche zurück ins Bett, wo meine Freundin weiterhin den Schlaf der buchhalterischen Gerechten schläft. Ich beneide sie ein bisschen.

 

Ich liege jetzt wieder im Bett, auf dem Rücken, und starre an die Decke irgendwo da oben in der Dunkelheit.

Meine Fingerspitzen fahren über meine Glatze. Die Haare sind längst noch nicht am Wachsen, und der vorhandene Flaum schmerzt an den Wurzeln. Ich hatte zuvor keine Ahnung, dass die bloße Existenz von Haaren weh tun kann.

 

Ich gehe in mich, gedanklich.

 

Nur noch eine Woche... nein, eigentlich weniger als eine Woche.

In sechs Tagen werde ich in den Operationssaal geschoben.

Mehrere Monate hat es gedauert - dieses Hinwarten auf die EINE wichtige Operation, die nun in sechs Tagen stattfinden wird.

Nicht, dass ich mich während dieser Wartezeit gelangweilt hätte. Mit sechs Chemozyklen und diversen Besuchen in der onkologischen Tagesklinik war ich gut beschäftigt und habe mich sozusagen von Infusion zu Infusion gehangelt.

 

Nun ist die Chemo vorbei, und ich bin ziemlich hinüber.

Die halben Nächte verbringe ich stundenweise auf dem Klo, meine Schleimhäute fühlen sich überall regelrecht brüchig an, und meine Mundhöhle ist übersät von kleinen Wunden.

Ich bin so hüüüüüübsch.

Fett fühle ich mich irgendwie auch, obwohl das das geringste meiner Sorgen ausmacht. Na ja - ich hab den Ratschlag der Ärzte, bloß nicht mit dem Essen aufzuhören (weil zuviel abzunehmen nicht gut ist), etwas zu wörtlich genommen. Das Cortison hat mir dann den Rest gegeben.

Strichi, Strichi, Mondgesichti.

 

In sechs Tagen schneidet mir jemand fein säuberlich einen Körperteil ab.

Ich glaube, dass das okay für mich ist. Wer will schon das Haus, in dem ein böse wucherndes Gewächs, zur Langzeitmiete eingezogen war, weiter stehen lassen?

Dann reißen wir's doch lieber ab.

 

Pragmatismus hin oder her - es wird dennoch ein Wendepunkt.

Oder auch ein Startpunkt. Nämlich der in ein neues Leben - ohne Krebs, bitteschön, ich wäre sehr dankbar.

 

Unglaublich, oder?

Vor einem halben Jahr sind wir gerade vom Kärtnen-Urlaub zurückgekommen, und ich habe nicht gewusst... nicht ahnen können, dass mein komplettes Leben auf links gedreht wird.

 

Und jetzt sind es nur noch sechs Tage, die mein altes Ich von meinem neuen Ich trennen.

Ich gehe halbwegs entspannt dieser OP entgegen. Eine habe ich ja schon hinter mir. Dem kleinen spitzoiden Melanozyten-Arschloch, das meine Hautschichten infiltrieren wollte, wurde schon der Garaus gemacht.

Statt ihm prangt nun meine Oberschenkelhaut auf meinem Unterschenkel. Das muss man auch erst mal schaffen, im normalen Leben.

 

Ich kontrolliere noch einmal meinen Wecker. Es wird bald fünf, und die Morgendämmerung wird nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Ein neuer Tag beginnt, und dann dauert es nur noch

einen

zwei

drei

vier

fünf

Tage.

 

Dann bricht der sechste Tag an, der 27. Februar.

Tschüss, Brust. Verpiss dich endgültig, Krebs.

Hallo ich.

 

 

Hallo ICH.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    sabine (Dienstag, 21 Februar 2023 06:20)

    27.2.
    mein Geburtstag
    auch irgendwie deiner
    GsD