Backpacker

Kennt ihr das?

Viele Dinge, die wir erleben, prägen sich uns bis ins letzte Detail ein... und andere wiederum, die eigentlich nicht weniger wichtig wären, verblassen mit der Zeit.

Oft müssen wir angestrengt nachdenken, um uns genau zu erinnern, und häufig genug schaffen wir es nicht mehr, die Puzzleteile richtig zusammenzusetzen.

Manches bleibt im Verborgenen.

 

Ich erinnere mich an eine ambulante Reha - damals noch ein Pilotprojekt - die die Abteilung der Physikalischen Medizin "meines" Krankenhauses anbot.

Es war das Jahr 2014 und etwa eineinhalb Jahre nach meinen Krebsdiagnosen.

 

Wir waren ein bunt zusammengewürfelter "Haufen" an Krebs Erkrankter - ehemals und aktuell.

Gemeinsam würden wir drei Wochen lang halbtags verschiedene Aktivitäten und Behandlungen, teils miteinander, erleben.

Das waren Massagen, Lymphdrainagen, Gymnastik- und Fitnesseinheiten, Gesprächsgruppen, Klangschalentherapien, Autogenes Training, Nordic Walking und noch vieles mehr, an das ich mich gar nicht mehr wirklich erinnere.

Ich könnte euch jetzt erzählen, wie hilfreich das alles war... und das war es auch - das eine mehr, das andere weniger. Einiges mochte ich, anderes nicht.

 

Lieber aber möchte ich euch noch von den Menschen erzählen, die ich traf, und auch wenn mich bezüglich sie meine Erinnerung ebenfalls bereits in Stich lässt, so weiß ich doch noch einiges, das bei mir auch die eine oder andere Spur hinterließ.

 

Da war zum Beispiel Hedwig (alle Namen sind geändert), die Eierstockkrebs hatte und leider keine besonders günstige Prognose. Sie wusste das, machte daraus auch kein Geheimnis, insgesamt erzählte sie aber nicht viel. Wir anderen bohrten aber auch nicht nach.

 

Ich denke, mit der Zeit lernt man, nicht nur seine eigenen Grenzen und Mauern zu wahren, sondern auch die von anderen Menschen zu akzeptieren und respektieren. Wer sich selbst öffnet oder zu öffnen beginnt, darf nicht automatisch erwarten, dass andere folgen.

 

Ein sehr ruhiger Mann war Gerhard. Er litt an einem Gehirntumor und bekam noch Bestrahlungen. Da er ziemlich geschwächt war, war er von uns allen vermutlich derjenige, der diese Reha am meisten benötigte.

 

Conny wiederum war nur wenig älter als ich, hatte die Behandlung einer frühen Phase von Brustkrebs bereits abgeschlossen (keine Chemo und dergleichen - nur eine OP). Von ihr weiß ich nur noch den Namen und wo sie damals arbeitete. Noch heute denke ich an sie, wenn ich mit dem öffentlichen Bus an ihrer Firma vorbeifahre. Ein Erinnerungsfetzen, denn mehr weiß ich nicht, und recht viel mehr wusste eigentlich niemand von ihr.

 

Da waren noch mehr Leute.

Nur noch sehr schemenhaft erinnere ich mich an ein junges Mädchen, das sehr traurig und schwach war. Ich weiß nicht mehr, was sie hatte und warum sie eines Tages auf einmal nicht mehr da war. Wir erfuhren nur, dass ihre Behandlung intensiviert werden musste. Die Reha war für sie wohl zu früh gekommen.

 

Vor allem aber erinnere ich mich an Eberhard.

Ich glaube, jeder würde sich im Nachhinein am meisten an ihn erinnern.

Ein kleiner, schlanker Mann von damals etwa 50 Jahren, quirlig und immer mit einem Lächeln auf den Lippen.

Am meisten beeindruckten mich seine lebendigen, strahlenden Augen.

Ich sehe ihn vor mir, wie er auf dem Ergometer saß und mit geballter Faust seinen neuesten "persönlichen Rekord" verkündete.

Sport war für ihn nichts Extravagantes - vor dem Krebs war Eberhard Bergmarathons gelaufen und vermutlich einer der fittesten Menschen seiner Altersklasse gewesen.

Dann erkrankte er aus heiterem Himmel an einer endokrinen Form von Magenkrebs, der sich nur schwer in den Griff bekommen ließ. Eberhard ging sehr offen damit um.

 

Wenn ich an all diese Menschen denke, ist er für mich derjenige, den ich immer noch genau vor mir habe, wenn ich an ihn denke. Ich erinnere mich detailliert an sein Aussehen und selbst seine Stimme ist mir im Gedächtnis geblieben. Seine Unerschüttlichkeit. Seine Zuversicht. Sein Humor.

 

Eberhards Sohn arbeitete in dieser Abteilung des Krankenhauses, als Physiotherapeut, und natürlich liefen sich Vater und Sohn immer wieder über den Weg. :-)

Niemand hätte Christian für Eberhards Sohn gehalten. Sehr groß, dunkle Locken, braune Augen. Eberhard dagegen war - wie erwähnt - klein, hatte hellere Haare (einen Bürstenschnitt) und blaue Augen.

Eines hatte Christian aber definitiv mit seinem Vater gemeinsam: die gewinnende Art, die gute Laune, dieses sympathische Wesen. Wir mochten ihn alle.

 

Das alles ist jetzt Jahre her.

Ich weiß nicht mehr, was aus den meisten Reha-Teilnehmern geworden ist.

Von Gerhard (der mit dem Gehirntumor) las ich leider zwei oder drei Jahre später die Todesanzeige.

Ich würde gerne wissen, was aus Hedwig geworden ist oder aus dem traurigen Mädchen.

 

Vor allem aber würde ich gerne wissen, was aus Eberhard geworden ist.

Er musste nur kurze Zeit nach der Reha einen fürchterlichen Schicksalsschlag erleiden.

Sein Sohn Christian - der Physiotherapeut, der all unsere Herzen gewann - verunglückte während einer winterlichen Bergtour, als er und seine Freunde von einer Lawine verschüttet wurden. Alle konnten sich selbst ausgraben, aber Christian konnte nur noch tot geborgen werden. Er hinterließ nicht nur seine Eltern, sondern auch seine schwangere Lebensgefährtin und ein Kind.

 

Ich kann nur mutmaßen, wie schlimm das für Eberhard gewesen sein muss - gerade in seiner Situation, aber auch unabhängig davon. Niemand sollte so etwas Grauenvolles erleiden müssen.

 

In der Zeit, als ich noch ohne Anlass durch das Krankenhaus streifte (also vor Corona), ging ich auch in die Physikalische Medizin und besuchte die Stelle, an der Christians Kollegen ihm eine kleine Gedenkstätte eingerichtet hatten. Mit Foto und Segenssprüchen.

Ich war sehr berührt davon.

 

Wir haben damals alle - bis auf ein paar Ausnahmen - keine Telefonnummern ausgetauscht.

Wir waren nur für kurze Zeit eine Gemeinschaft und eine sehr unterschiedliche, nicht besonders verschworene, noch dazu.

Ich glaube, niemand hegte wirklich das Bedürfnis, unsere Beziehungen auszuweiten.

Nach diversen Handywechseln habe ich heute keine einzige Nummer mehr.

Würde ich Eberhard anrufen, wenn ich seine Nummer hätte?

Ich denke nicht. Ich möchte mir vorstellen, dass er immer noch am Leben ist und es, trotz seines schweren Verlustes, erfüllt und hoffentlich gesund weiterleben kann.

Ich möchte die Hoffnung haben, dass er sein Lächeln und seine positive Art nicht verloren hat.

Das ist es, was ich mir bewahren möchte und mir mit einem Anruf nicht ruinieren möchte.

 

In den blassen Erinnerungsbruchstücken der damaligen drei Reha-Wochen habe ich nun mit Hilfe dieses Beitrages herumgewühlt, das Andenken an Christian (zumindest ein wenig) hochgehalten und mich wieder daran erinnert, wie unterschiedlich schwer die Rucksäcke sind, die wir alle trugen und tragen.

 

Mit Eberhard, Hedwig, Gerhard, Conny usw. habe ich ein Stück des Weges zusammen zurückgelegt, jeder mit seinem Rucksack.

 

Wahrscheinlich habe ich nie wirklich begriffen, wie unwahrscheinlich leicht meiner war.

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