"Hey, McFly, dein Schuh ist offen!"

"Er sieht aus wie Marty McFly", sagte ich zu meiner Schwester und erntete daraufhin einen verständnislosen Blick.

Ich wiederum blickte auf das Baby - ihr Baby - im Kinderwagen hinab und lächelte.

Wir waren gerade eine kurze Runde spazieren.

"Na, wie Michael J. Fox eben. 'Zurück in die Zukunft'... du weißt schon. Mit seinen blauen Augen und den braunen Haaren."

 

Was habe ich mich damals gefreut, im Sommer 2012, als er zur Welt kam. Kind Nummer zwei - ein Bub nach einem Mädchen.

Ich, die über 100 km von meiner Schwester entfernt wohnt, konnte es nicht erwarten, den kleinen Mann kennenzulernen und gab mich vorerst mit jeder Menge Fotos zufrieden.

Daraus bastelte ich dann auch (etwas dilettantisch) ein Diashow-Video, während dessen Zusammenstellung viele Freudetränen flossen, und dann schickte ich das fertige Ergebnis meiner Schwester, die ihrerseits Tränchen vergoss.

Selbes Spiel hatten wir schon bei S., der um zwei Jahre älteren Schwester des neuen kleinen Erdenbürgers. Ihres Zeichens Neujahrsbaby 2010 im Bezirk Melk, Niederösterreich.

So, nun wisst ihr auch das.

 

Heute ist L. (ich möchte seine Identität und die seiner Schwester schützen, daher gibt es nur Anfangsbuchstaben) zehn Jahre alt, schlaksig, kurz vor einem Wachstumsschub und trägt seine Haare lang. Länger als schulterlang.

Die babyblaue Farbe seiner Augen von damals ist einem schönen Grünbraun gewichen.

 

"Ich liebe diesen Film, Mama" verkündet er inbrünstig in Richtung meiner Schwester.

Nein, nicht "Zurück in die Zukunft" ist gemeint. Sondern: "Avatar". Teil 1.

Wir sitzen eines Abends an den Weihnachtsfeiertagen (die ich diesmal bei meiner Schwester und ihrer Familie verbringen darf) auf dem Wohnzimmersofa bei Christbaumschokolade und Chips, während die Kinder es sich auf Matten vor dem Fernseher gemütlich machen.

Meine Schwester, die alle Fernsehinhalte sehr gezielt zu richtigen Zeitpunkten und altersgerecht auswählt, stoppt dazwischen immer wieder mal mit der Fernbedienung, um den Kindern inhaltliche Zusammenhänge zu erklären.

Wie sie das macht, auf welche Art und mit soviel Empathie und Feinfühligkeit, dafür liebe ich sie.

Habe ich ihr noch gar nicht gesagt, glaube ich. (Na ja, sie liest es ja nun.😉)

 

L. ist einer, der sich für Dinge, die ihn interessieren, nicht nur erwärmt, sondern dafür lichterloh brennt.

Ich sage nur: Fußball.
Ich sage nur: Star Wars.

Und das sind nur zwei Beispiele.

Wenn ihm etwas taugt, dann verschreibt er sich einer Sache voll und ganz. (Ich darf mich Recht und Fug behaupten, da gerät er seiner Tante nach.)

... So geschieht es an diesem Abend, dass der Film "Avatar" großen Eindruck bei L. hinterlässt.

Es ist wundervoll, seine Körpersprache zu beobachten... seine geballten Fäuste während der Schluss-Kampfsequenzen, und der Arm schießt beim Sieg der Hauptprotagonisten in die Höhe.

Nach dem Film wird sofort aufgezählt, dass unbedingt Bücher und Lego ins Haus müssen. Sein neues Interesse wird dann Luke, Han Solo & Co. sowie Mbappé und Modric nur kurz etwas zur Seite schieben - aber Platz... ja, Platz haben sie alle in L.'s großem Herz.

 

Überhaupt: Fußball.

Ich hatte meinen anfänglichen Vorsatz, die WM in Katar wegen der menschenrechtlichen Verfehlungen zu boykottieren, wieder aufgegeben.

Wegen L. und nur wegen ihm.

Denn während der spannenden Viertel-, Halb- und Finalspiele tauschten wir minütlich Textnachrichten aus, und mir ging es nicht um kindliche "Boah, Tor, Alter!"-Sager eines Zehnjährigen, denn die gab es sowieso nicht.

Mein kleiner Neffe hat nämlich eine schriftliche Eloquenz, die so manchen Gymnasiasten vor Neid erblassen lassen würde. Jede Wette!

 

Unvergessen auch, an den Feiertagen, unser einträchtiges Zusammensitzen am Küchentisch.

Er und ich. Jeder mit einem Panini-Fußballalbum und vielen Stickern.

Die wir einkleben.

Darüber diskutieren.

Er - der zehnjährige, glühende, selbst kickende Fußballfan.

Ich - das fast fünfzigjährige tantenähnliche Wesen mit kurzer Torwart-Vergangenheit (damit konnte ich bei ihm Eindruck schinden, aber hallo!) und ebenfalls großem Fußballinteresse.

Klingt komisch?

Ist aber so.

Passt auch so.

 

Dann der Abend, als wir in eine nahegelegene Sporthalle fahren, um uns ein Spiel der Basketball-Superliga anzusehen.

Sogar vom VIP-Bereich aus, wo wir Limoschlückchen trinken und Salamibrötchen essen, während schwitzende Hünen wenige Meter entfernt den Ball in den Korb dunken.

Das kommt wiederum vor allem mir entgegen, denn seit geraumer Zeit interessiere ich mich für Basketball und verfolge die Spiele der amerikanischen NBA.

Klar, dass ich da mit "Fachwissen" glänzen kann (oder zumindest so tue).

Hinterher fahren wir noch zum Mäci-Drive in, amüsieren uns, genießen die Zeit, blödeln herum.

Gute Zeit.

 

Ich denke manchmal das, was irgendwann jeder mindestens einmal denkt, wenn man mit Kindern zu tun hat:

Wo ist die Zeit hin?

Wie konnten sie auf einmal so groß werden?

Wo sind die kleinen speckigen Unterarme geblieben?

Wo die großen blauen McFly-Augen, die - damals im Kinderwagen - noch nichts Konkretes fixieren konnten?

Wo der kleine "Schnabelmund", der L. immer so herzerweichend niedlich aussehen ließ?

 

Und ich erinnere mich, dass die Kinderwagen-Episode im Herbst 2012 stattfand - haarscharf knapp vor meinen Krebsdiagnosen.

L. war zwei Monate vor meinem persönlichen Super-GAU geboren worden.

Aber als ich da ging, mit meiner Schwester und "Marty" im Kinderwagen, da ahnte ich noch nichts.

 

Einige Zeit später, stationär im Krankenhaus, schickte mir meine Schwester auf dosierte und sehr liebevolle Weise manchmal Fotos.

Von L. allein. Oder L. mit S.

Oder auch mit ihr und meinem Schwager.

 

Beim Betrachten der Fotos schmerzte mir das Herz, aber ich war nicht traurig, sondern voller Hoffnung.

 

Dieser kleine Mann... dieses wundervolle winzige Wesen...

...

.... ich will dabei sein.

 

Ich will L. aufwachsen sehen.

Ich will sehen, wie er groß wird.

(Wie er langhaarig wird, seine Schwester vergöttert, viele Hobbies und Interessen hat.)

Ich will sehen, wie er erwachsen wird.

Ob er sich mal einen Bart stehen lässt oder nicht.

Ob er einen ähnlich kreativen Beruf erlernen wird wie seine Eltern.

Oder ob er vielleicht sogar Profi-Kicker wird.

 

L. wurde, ob er nun damals wollte oder nicht (ich habe ihn nicht gefragt) zu einer Art "Lebensversicherung" für mich.

Seine Existenz wurde für mich zu einem Ankerpunkt des Weiterlebens, und wenn ich ihm so zusehe, wie er sich entwickelt, wie er sich langsam auf's Erwachsenwerden vorbereitet, dann sehe ich meinen eigenen Werdegang.

Mein Existieren. Meine eigene Entwicklung.

Wir sind durch eine Art unsichtbare Lebensader verbunden, er und ich.

Ich mache es mir viel zu selten bewusst, aber damals... damals enthielt jedes blauäugige Foto, jedes Wiedersehen mit ihm die Verheißung einer Zukunft, die ich unbedingt haben wollte.

 

 

Ich glaube, ich bin ganz gut unterwegs.

 

 

 

 

 

P.S.:

In diesem Beitrag kam L.'s Schwester S. eigentlich viel zu kurz. Aber ich wollte nicht "vermischen".

Der Königin der Pferde mit dem Lächeln eines Models widme ich später mal noch einen weiteren Text. :-)

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    sabine (Dienstag, 03 Januar 2023 10:14)

    Ach Marlies, so schön.....