Wunderwerk

Auch nach über zehn Jahren fasziniert es mich, wieviel ich noch von der Zeit der Erkrankung weiß. Das mag nicht verwunderlich sein, war es doch etwas, was mein Leben - damals und in der Folge - für immer verändert hat.

 

Eins der Dinge, die sich mir eingeprägt haben, war das Warten auf Chemo-Nebenwirkungen.

Wie allgemein bekannt ist, hatte ich vor der Chemotherapie zwar Respekt, aber keine Angst. Im Gegenteil - ich nahm sie beinahe freudig in Empfang, voller Überzeugung, dass sie mir helfen würde.

 

Als ich den ersten "Tropf" verabreicht bekam, war ich stationär im Krankenhaus, weil man meine Reaktion auf die Zytostatika überwachen wollte. (Die folgenden Chemos bekam ich dann ambulant.)

 

Zuerst einmal passierte ... gar nichts.

Überhaupt nichts.

Keine besondere Reaktion, keine Schmerzen, keine Kreislaufprobleme, nicht mal Müdigkeit.

Ich durfte mit meiner damaligen Freundin sogar einen Ausflug ins Mühlviertel machen. Da kam ich beim Bergaufgehen ein wenig aus der Puste, war aber ansonsten topfit.

 

Am nächsten Tag hatte ich eine dermatologische Untersuchung bei einem Konsilararzt im Krankenhaus, und auch hier weiß ich noch viele Details. Zum Beispiel, dass der eher jüngere Arzt unentwegt Kaugummi kaute. Oder dass er mich fragte, ob ich wisse, was "schwarzer Hautkrebs" sei. (Da musste ich fast die Augen verdrehen. Hatte ich kürzlich eine Melanom-Diagnose bekommen oder nicht?)

Als ich das Untersuchungszimmer verließ, lief mir meine Onkologin (die sich für meine Chemo und alles, was damit zusammenhing, verantwortlich zeigte) über den Weg.

"Wie geht es Ihnen, Frau S.?" fragte sie mich. "Wie vertragen Sie die Chemo?"

"Gut", antwortete ich trocken und musste grinsen. "Bis auf die leichten Schmerzen in den Zehen, versteht sich."

 

Schmerzen in den Zehen.

Das war tatsächlich meine allererste Chemo-Nebenwirkung. Es sollten noch weitere folgen... mit jeder Chemo mehr: Verdauungsprobleme, Erschöpfung, teils attackenartige Muskelschmerzen, Schleimhautprobleme, offene Stellen im Mund, Verlust des Geschmacksinns, Haarausfall, Kurzatmigkeit etc.

Na, das reichte doch.

Nichts davon war auch nur irgendwie lustig, und ich weiß, dass ich damals sehr krank war, aber mich - trotz der ganzen unschönen Begleiterscheinungen - nicht übermäßig krank fühlte.

 

So, und jetzt machen wir einen grooooßen Sprung zum 27. November 2022, das war vor etwa zwei Wochen.

Ich war zu dem Zeitpunkt bei meinen Eltern zu Besuch und machte mich allmählich für's Nachhausefahren fertig. Ich begann sporadisch zu husten, dachte mir aber nichts dabei.

Am nächsten Tag ging es mir rapide schlechter. Husten, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen innerhalb weniger Stunden. Ich fuhr von der Arbeit heim und wusste irgendwie, dass es nicht mit zwei oder drei Tagen Krankenstand erledigt sein würde.

 

In den nächsten Tagen war ich SEHR krank. Ich erinnere mich nicht, mich jemals im Erwachsenenalter so krank gefühlt zu haben. (Als Kind schon, da ich da so ziemlich alles mitgenommen habe von Masern bis Scharlach.)

Dass ich alleine lebe, war da auch nicht gerade hilfreich, weil mir jeder kleine Handgriff, jede Bewegung enorme Energie kostete.

In den ersten Tagen lag ich nur und wollte auch nichts machen außer einfach nur liegen. Jeder Toilettengang erforderte Überwindung, weil ich einfach nur dahindämmern wollte.

 

Ich telefonierte mit jemandem - ich weiß nicht mehr mit wem, vielleicht mit den Eltern oder meiner Schwester - und ich sagte einen denkwürdigen Satz:

 

"Ich glaube, ich habe mich nicht mal während der Chemo so schlecht gefühlt."

 

Ja, darf man denn so etwas sagen?

Ist nicht eine Chemo und alles, was damit einhergeht, die Königin über alles Sich-schlecht-fühlens?

Ist nicht alles, was "darunter" ist, eine lächerliche Kleinigkeit?

So nach dem Motto "Hey, ich hatte Krebs, was ist da schon alles andere dagegen?"

 

Natürlich ist eine Influenza - also eine Grippe - verglichen mit einer Krebserkrankung nicht so schlimm. Sie ist im Normalfall weder lebenseinschneidend noch -verändernd und nur selten lebensbedrohlich. Außerdem ist sie schneller wieder vorbei und erfordert eine ganz andere Medikation.

Eigentlich verbietet sich jeder Vergleich, da jeder Vergleich hinkt.

 

Und doch: Ich habe mich während meiner gesamten "Krebs-Laufbahn" nicht so mies gefühlt wie in den ersten sechs oder sieben Tagen "meiner" Influenza.

Es hat mich auch ein wenig verzagen lassen, denn wenn man so in den Seilen hängt, kann man sich teilweise gar nicht vorstellen, dass das je wieder anders werden wird.

 

Und doch passiert genau das.

Allmählich brauchte ich keine halbe Stunde "Vorbereitungszeit" mehr für jedes Aufstehen (WC-Gang, Körperpflege, Tee kochen...), sondern nur noch fünf Minuten.

Allmählich wich das stumpfe Starren an die Zimmerdecke anderen zaghaften Versuchen, die Zeit totzuschlagen. Nach und nach gelang Radiohören, Lesen und Fernsehen wieder und in der zweiten Woche lag ich nicht mehr durchgehend im Bett.

Die Kraft kehrte allmählich zurück. Sie ist noch nicht wieder bei 100% (das wird noch eine Weile dauern), aber das ist schon in Ordnung.

 

Was ich wieder gelernt habe: Auf meinen Körper ist Verlass.

Egal, wie sehr ich zum Nullpunkt zurückgeworfen wurde - mein Körper gibt alles, diesen Prozess wieder umzukehren.

 

Wir sind manchmal ungeduldig, wenn es uns schlecht geht - selbst bei Kleinigkeiten wie einem verdorbenen Magen, Kopfschmerzen oder einer Erkältung.

Nein, ich will das nicht!

Das soll schnell vorbeigehen!

Manchmal ist auch Wut dabei, dass der Körper uns "im Stich" lässt.

Viel zu oft vergessen wir aber, wie sehr das Wunderwerk Körper unentwegt daran arbeitet, den Ursprungszustand - mit allem Wohlbefinden - wiederherzustellen.

 

Auch bei Krebs ist das so. Der Körper werkt auch da oft "im Hintergrund", und während wir ihn verfluchen, versucht er uns zu helfen, zu retten, uns am Leben zu erhalten.

Klingt pathetisch?

Ich glaube aber daran.

 

Wie man weiß, wird leider nicht jeder "Kampf" (wenn man ihn denn so nennen will) gegen eine Krebserkrankung gewonnen. Manchmal schafft es der Körper nicht, und die Gründe dafür bleiben oft verborgen.

 

Wenn wir eine Erkrankung durchmachen - und da spielt es keine Rolle, ob es sich um eine Grippe, Krebs oder etwas anderes handelt - brauchen wir Vertrauen, dass es wieder besser werden möge.

Vertrauen in den Körper, in die Zeit, in Gott - was auch immer für jeden am besten passt.

 

Mir hilft dieser Gedanke.

Ich glaube, ich habe meinen Körper während meiner Krebserkrankung vor über zehn Jahren zum ersten Mal wirklich bewusst wahrgenommen - ihn einerseits als verletzlich, aber auch als immens stark erlebt.

Wenn dann eine Grippe daherkommt und mich für eine Zeitlang komplett ausbremst, wird es Zeit, mir wieder bewusst zu machen, dass es manchmal nicht schadet, zurück an den Start zu gehen und wieder aufmerksamer und auch gesünder zu leben.

 

(Leicht gesagt... aber wer es nicht versucht....)

 

 

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