Legacy of the Breast

"Ooohoooh ohooohoohoo oohohooo ohoo ohoo..."

 

Die Intro-Melodie eines der bekanntesten Songs der Band Iron Maiden erklingt, und sofort beginnen unzählige Stimmbänder im Publikum zu vibrieren. Note für Note wird inbrünstig mitgesungen. Hände strecken sich dem lauen Nachthimmel und den fernen und doch so nahen Musikern entgegen.

Dicht an dicht stehen die Massen... 25.000 sind es... sie alle sind - egal ob Männlein oder Weiblein - "Blood Brothers" (wie ein weiterer Song der Briten heißt), die die Liebe für diese Art von Musik gemeinsam haben.

 

Inmitten dieses Menschenmeers stehe ich. Erstaunlich weit vorne sogar. "Ich kann die Nasenhaare der Musiker zählen", behaupte ich hinterher gegenüber meinem Begleiter. Neben mir, hinter mir, vor mir und teilweise über mir: Menschen, Menschen, Menschen. Dick, dünn, alt, jung. Arme, Beine, Schultern, Bierbecher, Parfüm, Schweißgeruch, Kaugummi, hässliche Tattoos, schöne Tattoos, unzählige Maiden-Shirts mit unterschiedlichen Motiven.

Menschen.

Viele, viele Menschen.

Es gibt kaum etwas, das ich mehr hasse, als von sovielen von ihnen umgeben zu sein.

 

Außer es handelt sich um etwas, was ich liebe. Diese Art von Musik eben, und da nehme ich das eben in Kauf, das ich alle 3 Sekunden angerempelt werde, mir eine lackgewandete, etwas dralle Dame etwas über die Schulter schreit: "PATRICK!!!" (Aber der gute Patrick scheint sie nicht zu hören.)

Ich akzeptiere den permanenten "Gras"-Geruch und die zahlreichen Bierbecher, die vorübertransportiert werden, denn ich fühle mich wohl mit meiner Musik, die ich seit über 35 Jahren gerne höre.

 

"Fear of the dark", singt Bruce Dickinson vorne und macht eine dramatische Armbewegung in Richtung Publikum, in Richtung WIR.

"Fear of the dark!" singen Tausende Kehlen zurück, und nein... es gibt kaum etwas, das so tief in die Magengrube fährt und nichts als Glückseligkeit hinterlässt.

 

Ich sehe die unterschiedlichsten Leute.

Leute, die aussehen, als würden sie sich eher auf einer Dinner-Party zu Hause fühlen, aber nein - Überraschung - sie tragen ein nagelneues Tour-Shirt der aktuellen "Legacy of the Beast"-Tour.

Ich sehe auch Familien. Mama, Papa, Kind. Der Papa vermutlich langjähriger Fan, der den Sohn angefixt hat, und die Mama ... nein, die ist nicht "einfach nur Begleitung", sondern ganz offensichtlich ebenfalls mit der Musik der "Eisernen Jungfrauen" vertraut.

Sohnemann trägt ein "The Trooper"-Shirt, und als während des Konzerts der gleichnamige Song beginnt, bemerke ich, wie Papa den jungen Fan auf die Schultern nimmt, und dieser das Motiv seines Shirts in Richtung Bühne hält (wie ein Fußballer sein Vereinswappen auf dem Trikot).... und sein Gesicht... pures Glück, unbändige Freude. Mir kommen fast die Tränen ... und das meine ich keineswegs zynisch.

 

"Legacy of the BREAST", denke ich und muss aufgrund des Wortspiels grinsen, denn Menschenansammlungen wie diese machen mir auch mein "Verwundbarkeit" wieder einmal in aller Deutlichkeit klar.

Da vorn am Brustkorb sind Narben, empfindliches und teils schmerzendes Gewebe und gleich dahinter die Rippen.

Ich muss mich also ständig wappnen gegen spitze Ellenbogen, harte Schultern und allzu impulsive Bewegungen anderer. So lege ich also meine Arme meist nah an den Oberkörper, jedoch ohne sie zu verschränken.

Mitten drunter, wenn mich die Musik-Emotionen überrollen, ist es mir aber auch minutenlang egal, denn dann springe ich und hüpfe ich und recke mich "trotz" meiner fast 50 Lenze und recke selbst die Fäuste und "Pommesgabeln" in den Nachthimmel...

🤘

 

"Woe to you, o Earth and Sea..."

 

.... und singe... und singe. Bis ich heiser bin.

 

"Maideeeeen!" brülle ich euphorisch meinem Begleiter entgegen, den ich erst wiederfinde, als die letzte Zugabe verklungen ist.

Er dagegen ist schon ein alter Iron Maiden-Hase und hat die Band bereits mehrfach gesehen. Seine Konzentration lag eher auf den schmerzenden Füßen und dem zur Neige gehenden Bier, aber ich lasse mir die Freude nicht vermiesen, klopfe meinem Freund auf die Schulter, und wir machen uns - gemeinsam mit einer Kleinigkeit von eben 25.000 Menschen - auf den Weg nach draußen.

 

Es soll noch lange dauern, bis sich das Parkplatz-Chaos aufgelöst hat und wir uns auf die fast zweistündige Heimfahrt machen können.

 

Ich weiß nicht, ob die dralle Dunkelhaarige ihren "Patrick" wiedergefunden hat.

Ich weiß auch nicht, wie lange der kleine, etwa 10-jährige Maiden-Fan von diesem Konzertereignis wohl träumen wird.

Ich habe keine Ahnung, wie sich meine eigenen Füße später - wenn Ruhe eingekehrt ist - vom vielen Gehen und Stehen anfühlen werden (aber es ist mir wurscht).

Ich weiß aber, dass mein Brustkorb heilgeblieben ist. Niemand hat meiner "Buckelpiste" ein weiteres Schlagloch hinzugefügt. Das wäre ja mal ein Andenken gewesen... ein zweifelhaftes.

 

Ist es wirklich so, dass man besondere Momente wie ein solches Konzert-Highlight nach einer Krebserkankung mehr genießt als früher?

 

Ähm... keine Ahnung. Ich bin davon vermutlich ziemlich unabhängig, auch wenn man mir eine gewisse Arroganz aufgrund der fehlenden "O Gott o Gott, ich bin ja so dankbar, dass ich das erleben darf"-Attitüde vermutlich nicht absprechen wird.

Nein, irgendwann auf der Strecke habe ich das wohl abgestreift - wenngleich mir ein persönliches, privates Dankbarkeitsgefühl auf ewig erhalten bleiben wird, doch das hat auf einem - hey! - Iron Maiden-Konzert einfach nix verloren.

 

"... and in the river reflections of me.

 

We're blood brothers!"

 

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