In der Normalität

Letztes Mal habe ich beschrieben, wie schwierig es sein kann, nach einer Krebserkrankung wieder in einen geregelten, "normalen" Alltag zurückzufinden.

Bei mir liegt der Krebs fast eine Dekade zurück - ich kann also bestimmt längst von "Normalität" reden.

Oder?

 

Oder... doch nicht?

 

Ihr denkt es euch vermutlich:

Nein - nicht alles ist wieder geregelt, normal und üblich.

In mancher Hinsicht sage ich da: "Zum Glück."

In anderer Hinsicht aber sage ich: "F**k!"

 

Natürlich habe ich gelernt, mit dem, was sich verändert hat, zu leben, und seien wir uns doch ehrlich:

Ich lebe, ich bin da, ich bin nicht (ernsthaft) beeinträchtigt und ich kann mir jeden Tag aufs Neue eine ansehnliche bis mitunter sehr gute Lebensqualität erschaffen. Ich habe es selber in der Hand.

Dieses Glück hat nicht jeder Mensch.

Daher bin ich demütig.

 

Ja, ich beschwere mich auch nahezu täglich über irgendetwas, worüber ich mich ohne die Krebserfahrung wohl nicht (in der gleichen Weise) mokkiert hätte. Einiges davon sind banale Kleinigkeiten, anderes tatsächliche Ärgernisse und nervige Einschränkungen. Manches ist auch einfach nur anders als vorher, und mitunter fällt mir das gar nicht mehr so wirklich auf.

Aber alles geht so irgendwie... mal mehr, mal weniger, und lässt sich in den Alltag integrieren.

Schlagwörter: "in Kauf nehmen" und die eben erwähnte Demut.

 

Jetzt wollt ihr vermutlich wissen, wovon genau ich schreibe.

Nun, da haben wir zum Beispiel...

 

1. den Maulwurf

 

Über gewisse Dinge kann man leider irgendwann nicht mehr hinwegsehen.

Nicht nur, dass ich mich figürlich einem dieser patschert wirkenden, moppeligen Tierchen zumindest verwandt fühle ... ich bin mittlerweile auch genauso "schas-augert".

Mit dem Beginn der Anti-Hormontherapie vor ca. 9 Jahren fing es schleichend an, dass mir die Buchstaben beim Lesen nicht mehr so gestochen scharf erschienen. Eine Lesehilfe tat vorläufig ihren Dienst, bis ich mir dann doch eine richtige Lesebrille zulegte... und seitdem geht's bergab mit der Sehkraft-Superpower.

Wenn die Arbeitskolleg*innen mich in der Werkstatt fluchen hören ("Ich SEH nix, Scheiße verdammte!"), weil ich beim Auseinanderpfriemeln eines Hörgerät-Innenlebens keine Mini-Details mehr wahrnehmen kann, dann wird es wieder Zeit für eine Erhöhung der Sehstärke. (Zum Glück sitze ich bei der ebenfalls ansässigen Optik an der Quelle.)

Mein Alltag besteht aus Brille auf-Brille ab-andere Brille auf-andere Brille ab. Und vor allem: Brille vergessen und Brille suchen.

Mich mit einer "Dioptrien-Krücke" ordnungsgemäß zu versorgen, ist eine Challenge. Für meine Sehverschlechterungen sind - neben dem Alter - auch die Hormone bzw. deren Fehlen verantwortlich. Also eine Folge der Antihormontherapie, die ich nun fast seit 10 Jahren in Tablettenform mache. Nicht nur, dass alles kontinuierlich schlechter wird und eine Hornhautverkrümmung erschwerend hinzukommt - ich muss im Berufsalltag ständig mit verschiedenen Sehdistanzen arbeiten (Bildschirmarbeit, Otoskopie, Hörgeräte-Reparaturen...), und dafür gibt es mittlerweile drei Brillen für mich: meine normale Gleichtsichtbrille, meine Arbeitsbrille und die Lesehilfe mit zuviel Dioptrien, die mich die ganz nahen Distanzen gut erkennen lässt.

Schick mich ohne Brille irgendwohin - ich werde zwar nicht gegen den nächsten Laternenmast laufen, aber gib mir bloß nix zu lesen oder zeig mir etwas "Winziges" ... ich krieg's nicht hin.

 

Dazu passt hervorragend ...

 

2. der Aqua-Effekt

 

Denn nichts lässt eine Brille auf dem Nasenrücken schöner nach unten rutschen als Schweiß.

Gesichtsschweiß, genauer gesagt. Denn dieser drängt - meist in den unpassendsten Situationen - aus allen Poren.

Ich beschrieb es schon mal: Zum Glück fängt's bei mir nicht zu fließen an, ich bekomme keine nassen Haare davon etc., aber es nervt schon gründlich. Im Sommer kann man es ja noch schön kaschieren, aber bei "halb-seidenen" Temperaturen ist es mitunter am schlimmsten, und die "Schwitz-Situationen" zu vermeiden ist schwierig bis unmöglich... zumal sie meist nicht von äußeren Bedingungen abhängig sind.

Aber gut - so sind die Wechseljahre nun mal, ich kann seit 9 Jahren ein Lied davon singen. Und es gibt Schlimmeres...

 

3. Knick-Knack!

 

... zum Beispiel Muskel- und Gelenkschmerzen. Da habe ich zwar auch meinen Alltag (sitzender Beruf, wobei ich darauf achte, möglichst wenig mit meinem Bürosessel zu verschmelzen) im Verdacht, mitverantwortlich zu sein, aber besonders in Ruhe und speziell vor dem Einschlafen tanzen die Nervenfasern in den Füßen und Beinen ganz gerne mal Salsa. Folge: unruhige Beine, die die Nachtruhe (bzw. allein bereits deren Erreichen) schon ziemlich stören können.

 

Das sind drei der für mich auffälligsten Nach- und Nebenwirkungen meiner Therapien, und ihr seht: Da ist nichts Überdramatisches dabei. Das gilt auch für Weiteres wie Stimmungsschwankungen (in den letzten beiden Jahren waren von purer Euphorie bis Beinahe-Selbstmordgedanken eigentlich alles dabei) genauso wie für dünneres Haar, "dumme" Fußnägel, eine empfindlichere Verdauung und eine Neigung zum Speckröllchen-Ansammeln (und ich meine nicht die zum Essen).

 

Aber HA! Ich will nicht vergessen, auch das tolle Zeugs zu erwähnen, das mir den Alltag sogar einfacher macht als früher:

 

1. kein Busen-Ärger mehr

 

Kein Schwitzen mehr da drunter, kein kiloweises Herumschleppen, kein Einzwängen in unbequeme Kleidungsstücke. Stattdessen T-Shirt drüber, Hemd drüber - fertig! Freiheit!

 

2. keine monatlichen Bauch-Wärmeflaschen mehr

 

Stattdessen gebärmütterliche und eierstöckliche Funkstille. Von mir aus darf das gerne so bleiben, denn hier geht mir garantiert NIX ab.

 

3. der Schmetterling ist geschlüpft

 

... Und nicht zuletzt haben mir all diese unbequemen und bequemen "Kollateralschäden" geholfen, mich selbst zu erkennen - wie ich bin und wie ich sein möchte.

 

Was wiegt da also nun was auf?

Es gibt Schlimmeres als das, worunter ich zu leiden habe, das weiß ich.

Es gibt auch Dinge, die das Unangenehme wieder aufwiegen.

Die Kunst ist, in den "schlechten" Phasen oder halt in den Momenten, in denen ich laut "F**k!" schreien möchte (oder das tatsächlich tue), gleich wieder an die erleichternden "guten Dinge" zu denken... und dann wieder froh zu sein.

 

Maulwurf oder Schmetterling... ich bin halt beides, abwechselnd - und noch so vieles.

 

Das gilt es zu entdecken.

Auf geht's!

 


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar von Monika Hartl, Krebshilfe OÖ

 

 

Norm-alität

 

In der Psychologie bezeichnet Normalität ein erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten“.
(Quelle: Wikipedia)

 

Letzte Woche fragte mich eine Patientin, die gerade ihre Brustkrebstherapie erfolgreich abgeschlossen hat, krebsfrei ist und sich jetzt in der sogenannten Nachsorge befindet, ob Krebspatient:innen nicht immer Krebspatient:innen bleiben.

 

Also einmal Krebs, immer Krebs?

Auch wenn man medizinisch als gesund eingestuft wird?

 

Laut Statistik Austria haben 2019 117.256 Betroffene in Österreich nach und mit einer Krebserkrankung gelebt.

117.256 Betroffene, die alle IHRE GESCHICHTE erzählen könnten und beschreiben, wie gut (oder weniger gut) sie mit all dem was war und ist -wieder-zurechtkommen.

Zurechtkommen mit psychischen und körperlichen Neben- und Nachwirkungen, die oft sehr lange -manche ein Leben lang – andauern.

So gesehen, könnte man sagen, ja man bleibt Krebspatient:in, zumindest bleibt die Gewissheit, dass man es war und sich das Leben dadurch in vielen Bereichen verändert hat.

Wenn die Krankheit – wie man so schön sagt – besiegt ist, die Betroffenen wieder besser und gut aussehen, wirkt es oft so, als sei alles geschafft und alles so wie zuvor.

Das ist sehr, sehr selten so.

Einerseits weil all das was wir erleben uns prägt und uns auch verändert – und andererseits weil eben oft auch körperliche Nach- und Nebenwirkungen bleiben.

 

„Mein Leben ist ganz anders“, hat mir heute eine Patientin am Telefon gesagt.

Sie ist eine von vielen Brustkrebspatientinnen, die eine sogenannte“ Anti-Hormon-Therapie“ machen, die in den meisten Fällen 5-10 Jahre andauert.
„Von den körperlichen Nebenwirkungen abgesehen, können mittlerweile einige Freund:innen nicht mehr damit umgehen, dass es mir so geht, wie es mir eben geht.“

Ja, auch das gehört zu den Neben- und Nachwirkungen.
Manchmal verändert sich dadurch der Freundeskreis, manchmal wird klar, dass man den Beruf nicht mehr ausüben kann und sich neu orientieren muss, manchmal zerbrechen Beziehungen, uvm.

Dazu kommen noch all die „emotionalen“ Neben- und Nachwirkungen, wie z.B. Ängste, mit denen man immer wieder konfrontiert wird.

 

Marlies lässt uns teilhaben daran, wie sich jetzt – fast 10 Jahre nach ihren beiden Krebsdiagnosen – körperlich und psychisch – ihr Alltag leben lässt.
Welche Neben- und Nachwirkungen sie (immer noch) tagtäglich zu bewältigen hat.
Wie sie das alles schafft und trotzdem Dankbarkeit und Demut empfindet, weil sie in der Lage ist, jeden Tag auf’s Neue eine einigermaßen gute Lebensqualität zu erschaffen.

 

Marlies beschreibt auch positive Entwicklungen, wie z.B. sich selbst besser kennengelernt zu haben, sich dadurch selbst zu erkennen – so wie man ist und wie man sein möchte.

Manche Betroffene beschreiben auch die Tatsache, dass sie wieder viel bewusster Leben, besser auf ihre Bedürfnisse achten können und auch „nein“ sagen gelernt haben, sich also auch besser abgrenzen können als vor der Erkrankung.

Oder dass sie sich nicht mehr über so viele „Dinge“ aufregen, die sie eh nicht ändern können.
„Worüber Menschen so streiten,….“, meinte heute eine Patientin. „
„Das ist es gar nicht wert und oft so oberflächlich und sinnlos. Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar geworden, bzw. ist mir das dadurch bewusst geworden.“
Das ist gut so und sicherlich auch hilfreich dabei, den Alltag neu zu gestalten und sich immer wieder die eigene „Normalität“ zu schaffen.

 

Das sind nur ein paar Aussagen von Krebspatient:innen, die zu uns in die Beratung kommen, in Vertretung für alle Betroffenen.
Betroffene, die versuchen wieder „Normalität“ zu leben, also so wie es in Wikipedia beschrieben ist, ein akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten – nach oder mit einer schweren Erkrankung leben.

Wie gesagt: 117.256 Menschen haben 2019 mit oder nach Krebs gelebt. Ich denke, dass es im Moment schon etwas mehr sind. (Die Tendenz ist steigend.)
117.256 Betroffene, die sicher auch immer wieder gefordert sind, mit dem was war und ist, zurechtzukommen und immer wieder neue Bewältigungsstrategien finden (müssen).
Die jeden Tag auf’s Neue ihr Leben innerhalb des gegebenen Rahmens gestalten und leben.
Diejenigen, die Marlies’s Blog und im Anschluss mein Blitzlicht lesen, kennen meine Meinung (mit Hochachtung und Demut) dazu schon:

 

117.256 Heldinnen und Helden, die sehr viel geschafft haben und dies nach wir vor tagtäglich tun.

 

 

 

Man kann einem Menschen nicht den Boden unter den Füßen wegziehen und erwarten, er werde sich normal benehmen.

(John Steinbeck)

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Kommentare: 1
  • #1

    YCP (Montag, 25 Juli 2022 18:56)