Opas Mädschen

"Du musst schon den Teller leeressen, sonst spielt der Opa nicht mit dir."

 

Ja, das war nicht gerade moderne angewandte Pädagogik, die meine Oma da ausübte... aber sie zeigte Wirkung.

Ich - wahrscheinlich 6 oder 7 Jahre alt - umklammerte den Rand meines lilafarbenen Lieblings-Porzellantellers (der stets für mich reserviert war) und löffelte den Inhalt in mich hinein.

Und wenn ich mit meinem Mini-Appetit noch so daran hätte herumwürgen mögen - der Opa MUSSTE einfach mit mir spielen.

Es gab nichts Schöneres für mich.

 

Meine Oma hatte es sicher nicht böse gemeint. Sie stammte aus der Kriegsgeneration, und das bedeutete auch, keine Lebensmittel zu vergeuden.

Ich wurde ja auch so genug verhätschelt. Das "süße Eck" in der Küche, hinter dem Brotkasten und der Schneidemaschine, war immer reichhaltig gefüllt.

Nichts genießt ein Kind mehr, als eine sorgenfreie Gegenwart mit einer Fähigkeit zu Entspannung und Müßiggang, die man im Erwachsenenalter oft verliert.

Und so verbrachte ich wundervolle Stunden auf der Hollywoodschaukel, mit einem Raider-Riegel in der einen und einem Micky Maus-Heft in der anderen Hand, und wenn ich etwas erleben wollte, lief ich mit meinen nackten Fußsohlen über die Steinplatten im großelterlichen Garten und dann durch die Wiese, nass vom Tau... oder nein, wahrscheinlich hatte ich doch Turnschuhe an, denn ich wollte ja in die "Werkstatt" meines Opas, und da war der Boden schmutzig und voller Metallspäne und ähnlichem.

Die Werkstatt - das war die Garage, in der er immer etwas bastelte.

 

Ich sehe ihn noch heute, mit seiner blauen Arbeitsjacke und der Schirmmütze, ein fröhliches Liedchen pfeifend.

Oft stand ich einfach nur neben ihm und sah ihm zu, was immer er auch machte. Ich spielte mit der Schraubzwinge und schnüffelte - aber nur ganz wenig - am Leim.

Einmal schenkte er mir ein Kinder-Sachbuch über Magnetismus, und ich verbrachte Stunden damit, Experimente zu machen.

 

Meine Oma, stets rotwangig und in ihrer obligatorischen Kittelschürze, hielt das Drumherum am Laufen.

Sie erzählte und plauderte den ganzen Tag, und wenn ich ehrlich bin, habe ich oft nur halb hingehört. Aber es war auch so schön, mit einem Becher Kakao auf der schmalen Sitzbank zu kauern (die mein Opa unverständlicherweise regelmäßig für seinen Mittagsschlaf nutzte) und zuzuhören, wie sie mich zwischendurch immer "mein Mädschen" nannte. (Sie hatte intensive freundschaftliche Verbindungen nach Deutschland und erzählte oft von ihren Besuchen in der Lüneburger Heide.)

Und kochen konnte meine Oma! Die meiste Zeit musste ich nämlich gar nicht zum Essen "gezwungen" zu werden, so gut schmeckte es.

Bei Familienfesten gab es Schnitzel mit traditionell-niederösterreichischem Erdäpfelsalat. Dazu bekam ich - ungefragt - ein kleines "Souvenir-Krügerlglas" mit Bier. Zur Feier des Tages! ... Es schmeckte mir nicht, aber ich trank es trotzdem (wenngleich ich auch sicher war, als Erwachsene nie wieder Bier zu trinken).

Meine Oma enttäuschte man ganz einfach nicht, so wenig nachvollziehbar der Grund auch sein mochte. :-)

 

Als ich älter wurde, war ich zwar nicht der "rebellische Teenager schlechthin", aber meine Interessen verlagerten sich auf ganz natürliche Weise. Für meine Großeltern war das sicher nicht immer einfach, denn es war nun nicht länger Thema, nach Italien auf Urlaub zu fahren oder Schlauchboot-Touren auf der Donau zu machen.

Meine Oma klagte nicht, holte mich 1x in der Woche von der Schule ab und kaufte mir jeden Donnerstag die "Bravo".

Mein Opa beschwerte sich ebenfalls nicht, aber ich weiß, dass er sich schwer tat mit der Richtung, die mein Leben nahm... er verstand es nicht. Und ich merkte es nicht.

 

Bei einem Familienfest zog ich mir - mittlerweile Anfang 20 - eine Schirmkappe verkehrt herum über meine blondierten kurzen Haare und musste lachen, weil mein Opa es mir gleichtat und sich so neben mich setzte. Es gibt ein Foto davon.

Es war ein Moment der ungewohnten Nähe und Ausgelassenheit, und es war wie eine Ahnung seinerseits, dass es so nie wieder sein würde.

 

An einem Morgen, wenige Wochen später, fuhr er mit der Scheibtruhe und transportierte ein paar Steinplatten.

Er fiel einfach um und war auf der Stelle tot.

Meine Mutter (seine Schwiegertochter) sagte es mir am Telefon, während ich mir gerade einen Videofilm ansah, und weil ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte, dass zum ersten Mal in meinem Leben ein nahes Familienmitglied starb, ließ ich den gestoppten Videorekorder einfach weiterlaufen, nachdem ich das Telefongespräch beendet hatte.

Das klingt gefühllos... aber ich war geschockt - und vom Film bekam ich ohnehin nichts mehr mit.

 

Einige Jahre später durfte meine Oma noch ihren 80. Geburtstag feiern, bevor auch sie relativ überraschend aus dem Leben gerissen wurde.

Ich lebte längst nicht mehr in der Nähe meiner Eltern und Großeltern, aber wie es oft so ist ... man macht sich hinterher auch mal Vorwürfe:

Warum hab ich sie nicht öfter besucht? Oder wenigstens häufiger mal angerufen?

 

Warum habe ich all die schönen Sommertage im Garten, den Geschmack der Orangen-Bonbons, das aufblasbare Schwimmbecken, die selbst geschnitzten Angelruten und die weichen Daunendecken einfach "vergessen"?

Aber das habe ich nicht... siehe oben.

Und irgendwann werden diese Schichten, die sich über diese Momente und Erlebnisse gelagert haben, abgetragen und das Darunter, mit seinen süßen und manchmal auch bitteren Augenblicken, kommt zum Vorschein.

Dann wollen wir diese Zeiten ewig festhalten. ... Aber das können wir nicht.

 

Wir können es nicht bei unseren Großeltern und auch nicht bei unseren Eltern.

Wir können uns wehren und lieber wieder Kind sein wollen, mit all der damit gekoppelten Unbeschwertheit und Sorglosigkeit, und in der Erinnerung verschwinden wie in einem warmen, schützenden Kokon.

 

Manchmal frage ich mich, wie meine Großeltern reagiert hätten, wenn sie meine Krebserkrankung miterlebt hätten, und ich habe darauf keine Antwort.

Eigentlich bin ich nur froh, dass das lange nach ihrer Zeit war.

 

Wenn ich bisher nur von einem Großeltern-Paar berichtet habe, so heißt das nicht, dass das andere nicht genauso wichtig für mich war.

Im Gegenteil - die regelmäßigen "Traisi Oma und Opa"-Besuche waren kindliche Highlights.

 

Als Kind habe ich manchmal überlegt, wen ich "lieber habe", und da haben dann meistens der St. Pöltner Opa und die Traisi Oma "gewonnen", und wenn das jetzt Kopfschütteln hervorrufen mag, so kann ich gut damit leben, denn Kinder lieben es eben, zu kategorisieren und emotional zu bewerten, was sie gerade beeindruckte.

Das waren dann halt die Abenteuer-"Werkstatt" von dem einen Opa und der Rührkuchen mit Schokostückchen von der anderen Oma.

 

Von meinen Großeltern lebt niemand mehr, und ich habe oft das Gefühl, es verabsäumt zu haben, sie viel mehr nach ihrem Leben und ihren Erinnerungen zu befragen.

Ich kann nicht direkt sagen, mir Vorwürfe zu machen, aber ja... ich wünschte, ich hätte sie alle vier mehr besucht.

Mehr mit ihnen geredet.

Sie mehr an meinem Leben teilhaben lassen.

Jetzt, älter, "vernünftiger" und in vielerlei Hinsicht "weiser", würde ich gerne so vieles, was sie betrifft, aber es ist zu spät.

 

Ich will bei meinen Eltern nicht den gleichen Fehler machen... sehe ich doch in ihnen viel von dem, was meine Großeltern ausmachte.

Sie bekamen von meiner Krankheit mehr mit, als ich ihnen zumuten wollte, aber sie waren "damals" noch jünger und irgendwie stärker. So vieles hat sich verändert, manches hat sich gedreht.... die Ängste liegen nun auch auf der anderen Seite... bei mir.... und nicht nur bei mir.

 

Man kann nicht festhalten, was in der Natur der Sache liegt, und man weiß nicht, wieviel Zeit man zusammen hat. Das weiß man nie, und das liegt nicht allein an Alter und/oder Krankheit.

 

So oft verdreht man wegen der einen oder anderen Nichtigkeit die Augen, reagiert genervt oder ungeduldig und wünscht sich etwas wäre "anders".

Aber eigentlich ist es genau DAS, woran man sich festklammert, in Verbindung mit kindlichen Erinnerungen und zügelloser Mama-Papa-Oma-Opa-Sehnsucht, die man nicht benennen kann (und vielleicht nie konnte).

 

Klingt das traurig? Vielleicht.

Aber es ist auch die Gewissheit, dass egal, was - so schwer und bedrückend etwas war, und so leicht und glückselig etwas war - es für immer bleiben wird... in den Köpfen, Seelen und Herzen.

 

Das alleine ist schon ein Geschenk.

 

 


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar von Monika Hartl, Krebshilfe OÖ

 

 

Erinnerungen

 

 

„Großvota, kannst du net obakumman auf an schn'n Kaffee?
Großvota, i mecht da sovül sog'n, wos I erst jetzt versteh'!
Großvota, du worst mei erster Freind, und des vergiss i nie, Großvota“
(Songtext, STS)

 

Erinnerungen können spontan auftauchen, z. B. durch einen Geruch, ein Lied, eine Begegnung mit einem Menschen, der einer vertrauten Person aus der Vergangenheit ähnlich sieht, oder aus anderen Gründen.

 

Erinnerungen können auch aktiv hervorgerufen werden, indem man bewusst an Vergangenes denkt, alte Bilder anschaut oder alte innere Bilder abruft.

 

Dieses Abrufen funktioniert in der Regel mit allen Sinnen.
Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken.

 

Marlies beschreibt das ganz wunderbar und lässt uns an ihren liebevollen Erinnerungen an ihre Großeltern teilhaben.

 

Wie schön, wenn man auf eine schöne, behütete Kindheit zurückblicken kann.
Liebevolle, stolze Eltern, die uns geduldig beim Erwachsen werden  durch alle Höhen und Tiefen begleitet haben, dabei sicher mehr als einmal an ihre Grenzen gestoßen sind und uns trotzdem bedingungslos geliebt haben.
Liebevolle Großeltern, die uns verwöhnt, bekocht, bespaßt und auch vieles gelehrt haben und die wir als Kinder immer gerne besucht haben.
Freund:innen, mit denen man jede freie Minute verbracht hat und sich sicher war, sich nie aus den Augen zu verlieren,

 

Natürlich ändert sich das.

 

Wir verändern uns, werden größer, älter und selbständiger und damit verändern sich auch oft der Wohnsitz, die Interessen, der Freundeskreis und Vieles mehr.

 

Kinder werden älter, verbringen irgendwann ihre Freizeit lieber mit Freund:innen als mit Familie und die Besuche werden rarer.

 

Auch als berufstätige Erwachsene, vielleicht relativ weit weg von Großeltern und Eltern wohnend, werden die Besuche wahrscheinlich auch nicht häufiger. Auch der Kontakt zu Freunden wird mit der Entfernung leider oft rarer und rarer.

 

Das heißt aber nicht, dass man nicht emotional verbunden bleibt, das bedeutet nur, dass man im „normalen“ Alltag angekommen ist.

 

Oder?

 

Irgendwie geht es – wenn man ehrlich ist – doch sehr vielen so.

 

Und irgendwann, wenn man als Erwachsene zurückblickt, sich Zeit nimmt und aktiv und sentimental den eigenen Erinnerungen hingibt, kann auch Wehmut auftauchen.

 

Die Wehmut, die die Trauer um die Großeltern beinhaltet.
Die Wehmut, dass wir uns zu deren Lebzeiten, zu wenig Zeit für Besuche genommen haben.
Die Wehmut, die Großeltern zu wenig gefragt zu haben und zu wenig über ihr Leben zu wissen.
Die Wehmut, Freund:innen von früher aus den Augen verloren zu haben.

 

Erinnerungen bedeuten aber auch, dass wir all das IN uns haben.
In unseren Gedanken und in unseren Herzen.

All das, was wir erlebt haben, die Zeit, die wir mit unseren Eltern,Großeltern und Freund:innen verbracht haben und die uns geprägt hat.

Die Gene, die wir bekommen haben.
Und auch die Liebe und die Geborgenheit.

Und viele von uns haben vielleicht noch das Glück, Eltern zu haben.
Eltern, mit denen wir Zeit verbringen können, denen wir noch ganz viele Fragen stellen und auch nach unseren Großeltern und deren Familiengeschichte fragen können.
Vielleicht gibt es Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins, mit denen Sie sich diesbezüglich austauschen möchten.

Vielleicht sind Sie jetzt auch motiviert, wieder Kontakt zu Freund:innen aufzubauen, die Sie schon seit Ewigkeiten nicht gesehen und gehört haben.

 

Viele antworten auf die Frage, was Ihnen im Leben wichtig ist mit „Gesundheit, Familie und Freunde!“
Nehmen Sie sich dafür wirklich genug Zeit?

 

Womit und mit wem verbringen wir unsere Zeit?
Wie kostbar ist uns unsere Zeit?
Wie kostbar ist uns unsere Lebenszeit?

 


Vielen Krebspatienten wird die Endlichkeit und damit verbunden die Wertigkeit der Lebenszeit ganz extrem nach der Diagnosestellung bewusst.

 

Ja, auch dann, wenn die Prognose grundsätzlich gut ist.
Trotzdem wird Krebs als lebensbedrohliche  und oft auch lebensverkürzende Krankheit erlebt.
Und das verändert oft die Wertigkeiten und eben auch das Zeiterleben.
Letztendlich können wir – wenn wir gesund sind - jeden Tag entscheiden, mit wem und wie wir unsere Zeit verbringen.
 
Wir arbeiten, „erfüllen unsere Pflicht“ und haben oft (zu) wenig Zeit für Familie, Freunde und Hobbies.
Wir schieben Vieles auf die Urlaubszeit oder gar auf die Pension und „laufen im Rad.“
Falls Sie das auch manchmal so empfinden, ist es an der Zeit, sich Zeit zu nehmen.

 

Für all das was Ihnen und all jene, die Ihnen wichtig sind.
Dafür ist es nie zu spät.

 

Auch für liebevolle Erinnerungen, die für immer in unseren Herzen wohnen.

 

 

„Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“
(Zitat aus „Momo“, von Michael Ende)

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Kommentare: 1
  • #1

    Sabine (Donnerstag, 26 Mai 2022 19:01)

    Das hast du wieder sehr schön geschrieben, Marlies! LG Sabine