Schämt ihr euch nicht?

Der früheste Moment, an den ich mich erinnere - an dem ich mich geschämt habe, das war...

 

Ja, das war, als ich vielleicht 6 oder 7 Jahre alt war. Wir wohnten damals in einer Hochhaussiedlung, und meine reichhaltige Freizeit verbrachte ich größtenteils draußen - auf dem Spielplatz, auf dem Fußballfeld, im nahegelegenen Wald.

Ich hatte eine sehr "freie" Kindheit. Es gab immer was zu tun, und Langeweile keimte zu keiner Sekunde auf.

 

Da kam mir einmal ein ziemlich menschliches Bedürfnis äußerst ungelegen. Ich war gerade mit den anderen Kindern so schön am Spielen, und das Wohnungs-WC im 5. Stock war ungefähr so weit weg wie der Jupiter.

Was tat ich also?

Richtig - ich machte in die Hose. (Klein! Klein, versteht sich!)

 

In meinem arglosen, juvenil-naiven, kindlichen Gehirn gab es keine Vorstellung dafür, dass man das vielleicht SEHEN könnte.

Aber so war es.

Im Schoßbereich meiner Jeans hatte sich ein großer nasser Fleck ausgebreitet.

Den sahen die anderen Kinder natürlich - und lachten und zeigten mit dem Finger auf mich.

Ich lachte ebenfalls, zeigte mich großspurig und behauptete, dass ich mir Wasser raufgeschüttet hätte, aber das glaubte mir natürlich niemand.

Und da fühlte ich zum ersten Mal bewusst: SCHAM.

 

Vermengt mit diesem Gefühl war auch Ärger über mich selbst, weil ich zu faul gewesen war, den Weg in die Wohnung auf mich zu nehmen, und nun die Konsequenzen spürte - in jeder Hinsicht.

Ich vermute, dass auch meine Mutter an meinem Geisteszustand gezweifelt und sich gefragt haben musste, ob der kleine Wildfang auf einmal wieder zur Bettnässerin wurde.

(Das war nicht der Fall - so viel sei verraten.)

 

Ein anderes Mal, als mir die Scham brennend in die Wangen und in die Knochen fuhr, war, als ich mit (ich glaube) meinem Vater den ersten Kinofilm meines Lebens zu sehen beabsichtigte: "E.T. - der Außerirdische".

Mit klopfendem Herzen verfolgte ich die Geschichte der nach Hause telefonierenden Kreatur mit den blauen Glubschaugen und identifizierte mich mit seinem Freund Elliott.

Aber irgendwann kam die Schlussszene (ihr wisst schon - die mit dem Raumschiff), und mein fieberndes Herz zerriss es förmlich vor überflutenden Emotionen.

Zack - da ging das Saallicht brutal an, als der Abspann lief, und ich... ich saß da und war nicht nur im Tal der Tränen - ich badete förmlich darin.

UND: Ich schämte mich fürchterlich, weil mich ja jeder sehen konnte. Und keiner - echt keiner! - weinte wie ich die dicksten Tränen. Nicht mal feuchte Augen hatten die, bildete ich mir ein. Ich heulte also Tränen der Wut, der Trauer (wegen E.T.) und der Scham.... und war fast untröstlich.

(Dass meine Eltern in den folgenden Monaten einen Haufen Geld für E.T.-Plastikfiguren und -Sammelpickerl ausgeben mussten, weil ich mich an einer kurzen, heftigen Außerirdischen-Obsession erfreute, hatte diese Scham-Attacke jedenfalls auch nicht verhindern können.)

 

Im weiteren Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter gab es sicherlich noch so einige Gelegenheiten, die mich diese Emotion wieder durchleben ließ, und das ist - wie man ja weiß - das Normalste der Welt.

 

Ich habe vor versammelter Schulklasse Blödsinn geredet; mich dusselig angestellt, als ich einer Angebeteten eine (natürlich nicht erwiderte) Liebeserklärung machte; bin betrunken einen Hügel hinabgerollt, habe anschließend meine Stiefel ins Katzenklo gestellt, einen Gitarrensack mit einem Schlafsack verwechselt und als Draufgabe habe ich auch noch aus dem Fenster (im 1. Stock) gekotzt.

Ich habe sicher auch noch dieses und jenes angestellt, was mir - und vermutlich auch anderen - die Schamesröte in fast lilafarbener Ausführung ins Gesicht getrieben haben dürfte. Mehrfach.

Aber das ist doch menschlich. Nicht wahr?

 

Na, und dann habe ich bekanntermaßen Krebs bekommen, und dafür und im Zuge dessen habe ich mich irgendwie nie geschämt.

Ich weiß nicht warum. Vielleicht weil ich alles unbewusst als "legitimiert" empfand, was ich sagte, machte oder wie ich reagierte... weil es ja der Situation geschuldet war und ich mich nicht auch noch um etwaige Peinlichkeiten kümmern konnte oder mochte.

Nein, Scham habe ich nie empfunden.

 

Nicht, als ich kurz nach der ersten Diagnose weinend durch die Stadt lief und mir wie der fremdeste Fremdkörper in diesem Universum voller vermeintlich glücklich, sorgenfreier Menschen vorkam.

Auch nicht, als ich eine knappe Woche später in der Klinik im Rollstuhl in einer "ruhigen Ecke" (die dann doch nicht so ruhig war) saß und mit meinen nächsten Angehörigen und meinem Chef telefonierte... natürlich schon wieder heulend... und mir wie ein schlechter Dramafilm-Abklatsch vorkam (nur dass dieses "Drama" mein tatsächlich reales war).

Ich schämte mich auch nicht, als ich vor den Operationen umgezogen wurde und man mich wohl auch - oh Gott - nackig sah, zumindest in Teilen. ... War mir wurscht. Hatte ich andere Probleme gerade.

Und ich schämte mich auch nicht, als mir nach 2 Wochen Klinikaufenthalt die Decke auf den Kopf zu fallen drohte und ich zeitweise jede Schwester, die nicht schnell genug flüchten konnte, an"grantelte" und sarkastisch anpflaumte.

Ich durfte das - ich war die Krebskranke. (Sagte ich mir... und deshalb gab's eben auch kein Schämen.)

 

Auch während der langen Therapiezeit schämte ich mich nicht.

Ich hatte über 100 kg (aufgrund des cortisonbedingten "G'sund'n Appetits"), ein rundes Mondgesicht (auch vom Cortison), eine feiste Glatze mit ein paar Gollum-Flaumhärchen, Pandabär-Augenschatten, und die Stiegen rauf (ohne Lift!) in unsere damalige Wohnung erschnaufte ich walrossmäßig gerade eben so.

Ich sah auch aus wie ein Walross, nebenbei bemerkt.

Aber ich schämte mich nicht. Die Glatze trug ich mit Stolz und die anderen Sachen waren eben Kollateralschäden.

 

Hätte ich manchmal gerne mal so etwas wie Scham verspürt?

Natürlich nicht. Es hätte mich von meinem Fokus abgelenkt, hätte mich der Legitimation beraubt, eben so zu sein, zu fühlen, zu denken, zu fluchen, zu bluten, zu scheißen, zu jammern, die Zähne zusammenzubeißen... Schmerz zu fühlen, Schmerz auszuhalten, Schmerz nicht auszuhalten, zu weinen, Angst ums Leben zu haben, Einkaufen zu gehen und nicht zu wissen, ob es sich "noch lohnt", diese Jacke zu kaufen, die Zukunft als schwarzes (Wurm-)Loch zu sehen, verbissen nicht aufgeben zu wollen, ans Sterben zu denken und ja nicht ans Sterben zu denken... das Kranksein bis in jede Pore zu spüren.

 

Wo bleibt da Platz für Scham?

 

Der kleinen Marlies mit der vollgelud'ltn Hose hätte ich ohne Weiteres über die strähnigen Haare streichen und ihr sagen mögen, dass die anderen Kinder blöd sind und es voll egal ist, ob die sie nun für ein Baby halten oder nicht.

Der heulenden E.T.-Marlies hätte ich ein Taschentuch gereicht und erklärt, dass man sich für starke Emotionen niemals zu schämen braucht und sich hinter großer Empfindsamkeit ganz besondere Menschen verbergen.

 

"Danach" - nach der Krankheit - habe ich das Schämen leider wieder gelernt, und gewisse Dinge aus meiner Krankheitszeit hätte ich mir dann doch gerne behalten (nicht nur die kecken Löckchen).

Geblieben ist zwar ein erstarkter Fokus auf Wahrnehmung und Durchsetzung meiner Bedürfnisse, aber die peitschenschwingende Kriegerin in mir treibt mich mehr denn ja an, und so schäme ich mich, wenn ich denke, nicht zu entsprechen... wenn ich denke, zu versagen... wenn ich nicht so kann, wie ich das gerne möchte... und wenn ich härter zu mir selbst bin, als ich das verdiene.

 

Nein, ich mag sie doch nicht, die Scham.

Ein bisschen Scheißegal-Mentalität von damals wär mir lieber.

Nicht so viel denken.

Nicht so viel fordern.

Nicht so viel Brutalität, wenn ich mit mir selbst ins Gericht gehe.

 

Eines Tages, und wenn's nur vorübergehend ist, lege ich das ab, pfeife auf andere und eigene Meinungen, rasiere mir die Haare ab (nicht weil ich krank bin, sondern weil ich's will), schau mir 3x hintereinander "Krambambuli" an (den S/W-Film!), heule dabei einen Gebirgssee, mach' mir in die Hose und wenn Wangen und Hose wieder trocken sind, geh ich in die Trafik und kauf' mir Pickerl. Ein dickes Paket voll, mit einem Gummiringerl drumherum, um ganz viel teures Geld....

 

... und ich werd mich einen Scheißdreck deswegen schämen. :-)))))

 

 

 

 

Fotoquelle: Pinterest (Catawiki)


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar von Monika Hartl, Krebshilfe OÖ

 

 

Scham – oder „wie ich mich fühle“!

 

Wann haben Sie sich das letzte Mal geschämt? Und wofür?
Wie hat sich das angefühlt, wie und wo in Ihrem Körper haben Sie die Scham wahrgenommen?

Kein angenehmes Gefühl und doch wahrscheinlich eines, dass Sie alle kennen.

 

„Für Scham lassen sich folgende Beschreibungen und Worte finden: verletzter
Stolz oder Würde, Demütigung, Niederlage, Verfehlung, Entfremdung, sich nicht
dazugehörig fühlen, Einsamkeit, scheu, schüchtern, Bescheidenheit, Unzulänglichkeit, Verletzung, Gelähmtsein, sich beklemmt und eingeengt fühlen, im
Boden versinken wollen, Kränkung, Verachtung/Ablehnung der eigenen Person,
Beschämung, Sorge um die eigene Performance – »wie andere über mich denken«, Verlust von Selbstachtung, Minderwertigkeitserleben, Selbstbewusstseinsproblem, Selbstwertthema haben, um Würde und Achtung ringen . . .“
Quelle: https://www.klett-cotta.de/media/44/OM_40011_0001_lammers_scham_und_schuld_CH07.pdf

 

Scham kann durch und in unterschiedlichsten Situationen auftreten.

 

-        Durch soziale oder körperliche Abweichungen oder abweichende Persönlichkeitsmerkmale, wie z.B. Weinen in der Öffentlichkeit.

-        Durch Überschreitungen, bei grenzverletzendem Verhalten, wenn wir z.B. beim Lügen ertappt, beim Schummeln erwischt und dafür kritisiert werden.

-        Bei Versagen oder Misserfolg

-        Aber auch bei Lob, erhöhter Aufmerksamkeit und dadurch unfreiwillig im Mittelpunkt zu stehen.

 

Das sind nur ein paar Erklärungen/Situationen, die Schamgefühl entstehen lassen.

 

Marlies hat uns in Ihrem Blog unglaublich ehrlich und „ungeschminkt“ an einigen sehr peinlichen Situationen aus ihrer Vergangenheit teilnehmen lassen und zwar aus ihrer Kindheit, Jugend und aus ihrer Zeit der Krebserkrankung.
Das ist unglaublich mutig und sollte auch allen Leser:innen Mut machen, zu Ihren Gefühlen zu stehen.
Auch zur Scham.

 

Eine Freundin hatte vor einigen Jahren einen Skiunfall und sich dabei beide Unterarme gebrochen.
Davon abgesehen, dass sie beidseitig operiert werden musste, starke Schmerzen hatte und einige Zeit im Krankenhaus verbringen musste, hat sie sich unglaublich dafür geschämt, Hilfe annehmen zu müssen.
Natürlich war sie unfähig, sich selbst zu waschen, Zähne zu putzen, sich nach dem WC selbst abzuwischen. (schreckliche Vorstellung, oder?)
Die Pfleger:innen im Krankenhaus waren sehr liebevoll und empathisch und haben es geschafft, ihr einigermaßen die Scham zu nehmen.

Dann kam der Tag der Entlassung und es stellte sich die Frage, wer das zuhause übernimmt. (Es war dann übrigens ihre Mama, die gemeint hat, sie soll sich nicht so anstellen…..)

Ein sehr schambesetztes Thema, oder?

 

Wie geht es Krebspatient:innen mit all den Umständen, körperlichen Einschränkungen Gefühlsausbrüchen, Neben- und Nachwirkungen und was sonst noch alles auftauchen kann?

 

-        Das Krankenzimmer, Dusche und WC mit anderen Patient:innen teilen, die alle körperlichen und psychischen „Zustände“ miterleben „müssen“

-        Nach der „Schüssel“ fragen zu müssen, wenn man zu schwach zum Aufstehen ist und sich von anderen bei der Körperhygiene unterstützen zu lassen und nackt zu zeigen.

-        Oder auch „nur“ die Frage zu beantworten, ob man heute schon „Stuhl gehabt hat“

-        Weinen, wütend oder ängstlich sein, „jammern“, … und das vor „den anderen“, also ungefiltert alle Gefühle zu zeigen.

-        Aber auch sich zu schämen, weil es einem selber soooo viel besser geht, als der Bettnachbarin/dem Bettnachbarn und einem „trotzdem“ zum Jammern zumute ist.

-        Anders auszusehen, als gesunde Mitmenschen. Glatze, Narben, cortisonaufgeschwemmt oder dünn und ausgezehrt zu sein.

-        Lange nicht arbeitsfähig sein zu können, nicht leistungsfähig zu sein und „anderen zur Last zu fallen.“

-        Und, und, und….

 

Marlies beschreibt, dass sie sich für all das während ihrer Behandlung nicht schämte.

 

Warum?

-        Weil es verständlich und nachvollziehbar ist.

-        Weil man nichts dafür kann.

-        Weil man gerade eine körperlich und psychisch eine sehr schwere Zeit durchmacht.

-        Weil man Krebs hat/hatte.

-        Weil, weil, weil…

 

Sehr vereinfacht könnte man zusammenfassend sagen, dass alles was wir als „normal“ empfinden und in der Gesellschaft als „normal“ gilt, auch kein Schamgefühl in uns auslöst. (Schämen Sie sich, nackt in der öffentlichen Sauna zu sein?)

Das bedeutet aber auch, dass wir immer wieder selbstfürsorglich, verständnis- und liebevoll auf unsere aktuelle und vergangene persönliche Situation schauen dürfen.

Das kann bedeuten, dass es sich dann gar nicht mehr komisch anfühlt, oder man sich gar dafür schämt, vielleicht nicht mehr so belastungs- oder leistungsfähig zu sein, sich nicht mehr Zeit für Oberflächlichkeiten und oberflächliche Freundschaften nehmen möchte, klar auszusprechen, was man möchte und vor allem nicht möchte – und eben anders empfindet, „tickt“, lebt,…. als davor.
Das bedeutet, sich selbst so zu akzeptieren, wie man – im Moment – ist und fühlt.

 

 

 

"Liebe ist das probateste Mittel, um das Schamgefühl zu überwinden."
(Sigmund Freud)

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Sabine (Dienstag, 12 April 2022 06:51)

    Jawoll !!!