Almabtrieb

Die kleine Marlies geht auf große Reise.

Ja, es ist wahr.

Zwei Wochen Großstadt, wegen meiner Ausbildung.

Wenn ihr das lest, habe ich Woche 1 schon hinter mir und bemühe mich, auch den zweiten Teil zu überstehen.

 

Aber was ist so schlimm daran?

Hey, Großstadt bedeutet mehr Möglichkeiten, mehr Platz, mehr PARTYYY! Überhaupt jetzt, da viele der Corona-Beschränkungen aufgehoben wurden - wenn auch Wien noch etwas strenger ist.

 

Na ja, meine Partyabende bestanden bisher in erster Linie darin, mit dem Gesicht voran auf's Bett zu fallen.

Gut, das stimmt nicht ganz - wir sind auch mal was essen gegangen, waren im Supermarkt einkaufen und spazieren. Voll spektakulär.

Ich hätte auch vorgehabt zu lernen. Ernsthaft. Nach 8 Stunden eingehämmertem Stoff ist man nämlich so fresh und ready, dass man sich bestimmt noch mehr Theorie reinziehen möchte.

Stattdessen: Gesicht voran auf's Bett ... ich erwähnte es ja schon.

 

Ich könnte jetzt jammern: Ich bin halt nicht mehr sooo jung. Ich brauch' ganz einfach mehr Erholungspausen, mehr Regeneration, mehr Zeit zum Wiederaufladen der Batterien.

Das stimmt auch. Also das mit dem Altsein.

 

Aber vermutlich liegt es eher an den doch sehr intensiven letzten Arbeitsmonaten... eigentlich an den letzten beiden Arbeitsjahren. Die haben Spuren hinterlassen, rede ich mir ein. Natürlich auch positive, keine Frage. Was ich in den letzten 9 Jahren alles an Weiterbildungen und Arbeitserfahrungen gemacht habe, das ist nämlich gewaltig. Da darf ich mir ohne falsche Bescheidenheit auf die Schulter klopfen. Nicht alles war das Gelbe vom Ei, aber das ist ja jetzt nicht wichtig.

 

Dann die Pandemie. Natürlich die Pandemie. Bei wem hat Corona denn keine Auswirkungen jedweder Art gehabt? So auch bei mir: Risse und Kanten, eine gewisse Sozialphobie und gleichzeitig doch das Bedürfnis danach, einfach jemanden in den Arm zu nehmen. Oder in den Arm genommen zu werden.

Dieses vorgelebte und allseits präsente Abstandhalten hat mich in irgendeiner Weise ausgehöhlt, aber darüber bin ich mir noch nicht ganz klar. Andererseits hatte ich bisher auch noch nicht groß Zeit, mir darüber klar zu werden. Siehe Arbeitsjahre.

 

Und jetzt auch noch Krieg.

Ich gehöre nicht zu den stahlharten Gemütern, die es schaffen, aus Selbstschutz sämtliche Berichterstattungen konsequent zu verbannen. Ich habe dazu schon Beispiele gehört.

Ich bin dann doch jemand, der informiert sein möchte, konsumiere die Quellen aber auch nicht wahl- und kritiklos. Letztlich muss man dann auch (rechtzeitig) wissen, wann es genug ist. Das macht einen ja nicht automatisch empathielos.

Aber ja, mir fährt das auch in die Glieder, was man da zu sehen bekommt. Wieder einmal relativiert es eigene Befindlichkeiten. Man fragt sich: Wie erginge es mir, wenn ich als krebskranker Mensch vor Raketen- und Artilleriebeschuss fliehen müsste und nicht wüsste, ob ich a) überleben werde und b) ob ich meine nötigen Medikamente und/oder Chemotherapie bekommen kann, da wo ich hinflüchte... wenn ich es denn schaffe? Von einem solchen Beispiel wurde berichtet.

 

Das alles saugt das Mark aus den Knochen. Na gut, aus meinen Knochen.

Ja, und dann eben noch die Großstadt.

An meiner steigenden Gereiztheit und inneren Unruhe merke ich spätestens nach 2 Tagen, wie sehr mir das zusetzt und dass ich dafür einfach nicht gemacht bin. Ich bin zwar auch nicht für Kuhgebimmel auf einer Alm gemacht, und mein Lebensmittelpunkt ist auch in einer Stadt, aber halt in einer kleineren, überschaubaren.

 

In Wien steigt man beispielsweise aus der S-Bahn aus - zu einer Stoßzeit noch dazu - und tastet sich dann gefühlte Kilometer lang in unterirdischen Schächten entlang zu Bahnhöfen und anderen immens wichtigen Punkten.

Du kannst, nachdem du mit zig anderen Leuten die Stufen hinuntergegangen bist, nicht einfach quer und übers Kreuz herumspazieren, wo du willst.

Du musst dich einreihen, dich vom (un)geordneten Mahlstrom menschlicher Leiber mittragen lassen, um nicht weggedrängt oder niedergetrampelt zu werden.

Es erinnert an das eben erwähnte Kuhgebimmel... an eine Art perversen (und doch - für andere - ganz normalen) Almabtrieb.

 

Diese Größe, diese Weite, dieses Übermaß an Körpern, der Lärm (ohgottogott, der LÄRM) und diese ganze Stimmung, die ich wieder mal so völlig unfreiwillig aufsauge wie ein zwangsverpflichtetes Löschblatt ... das wringt mich zur Zeit gnadenlos aus.

 

So ist es kein Wunder, dass ich am Wochenende zu Hause nicht viel zustandegebracht habe... außer nach Luft zu ringen.

Und auch wenn die Ausrede nicht mehr gelten dürfte... mit dem Lernen ist's auch nichts geworden.

"Dein Körper hat eben Ruhe gebraucht", sagt eine Kollegin. "Dem darfst du dich nicht verwehren."

Ja. Eh. Aber...

 

Wieviel von all dem hat nach all den Jahren noch mit meiner Erkrankung zu tun?

Vermutlich so einiges.

Das Bedürfnis nach Rückzug nach einem lärmigen, anstrengenden, menschengefüllten Tag zeigt es ganz deutlich.

Ob ich nun lernen muss oder nicht - gebe ich dem nach?

Da kann ich ganz klar sagen: Auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, meine Zeit zu verschwenden und den Kopf in den Sand zu stecken... ja, ich brauche es, diesem Bedürfnis nachzugehen.

 

Es werden auch wieder andere Zeiten kommen. Daran glaube ich ganz fest.

Ich werde die Sonne auf dem Gesicht spüren, wieder jemanden umarmen, mit jemandem lachen, mir meiner selbst und meiner Fähigkeiten sicherer und letztlich STOLZ sein.

 

Stolz, dass ich durchgehalten und nicht aufgegeben habe... trotz all dem Sand im Getriebe.

Und wenn ich beim Almabtrieb noch so oft in frische, warme Kuhfladen steige .... das grüne Gras, den blauen Himmel, die majestätischen Berge... solange ich das nicht aus den Augen verliere, könnte ich mir von mir aus noch ein paar weitere Wochen Großstadt an die Stirn pappen.

 

 

🐄💩⛰️

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