Zwischen den Speichen

Es war sicher nicht mein erste Begegnung mit ihm, aber die erste, die mir denkwürdig in Erinnerung geblieben ist.

Der Schmerz hat sich nicht von hinten angeschlichen, sondern mich gleich frontal gepackt.

Das Blöde war: Ich war auch noch selbst schuld daran.

 

Ich war vielleicht drei oder vier Jahre alt.

Meine Mama fuhr mit dem Fahrrad in den Ort, und ich saß hinter ihr auf dem Kinder-Fahrradsitz.

 

Irgendwann weckten die sich schnell drehenden, metallisch glänzenden Fahrradspeichen unter mir meine Aufmerksamkeit, und in einem Anfall geistigen Kurzschlusses (da sollten noch so einige in meinem Leben folgen) probierte ich kurzerhand, ob meine rechte Fußspitze zwischen diese Speichen passen würde.

 

Da ihr es bestimmt schon - atemlos vor Spannung - wissen wollt, verrate ich es euch auch ohne Umschweife:

Nein, sie passte nicht.

 

Im selben Augenblick, als meine ahnungslose Mutter weiterzutreten versuchte, schrie ich auf....

... und schrie.

Da hielt neben uns ein Auto, eine Frau riss die Beifahrertür auf und sprang heraus. Innerhalb von gefühlten drei Sekunden war sie bei mir und zog meinen Fuß aus dem Rad.

Ab diesem Moment fehlt mir die sonst so glasklare Erinnerung, was weiter passierte.

Nein, ich war nicht ohnmächtig geworden, aber es war halt einfach alles weg.

 

Das nächste Bild, das ich in diesem Zusammenhang vor dem inneren Auge sehe, ist, wie ich auf dem Bett meiner Eltern saß, mit einem Strumpf über dem Bein.

Im Nachhinein weiß ich nicht mal mehr, welche Verletzung ich davongetragen hatte.

Auch an den Schmerz an sich kann ich mich nicht mehr richtig erinnern.

Nur, dass er wirklich wirklich schlimm gewesen war.

 

Solange wir Kinder sind, gehören Schmerzen zu den schrecklichsten Dingen in unserer kleinen Welt.

Ich habe auch immer bewusst versucht, ihnen zu entkommen, aber das hat nicht gut geklappt.

Aufgeschürfte Knie gingen ja noch, aber 2x eine aufgeplatzte Lippe, die genäht werden musste? ... Puh.

Oder die regelmäßigen Zahnarztbesuche, die mir Kindheitstraumen bescherten, was einzig und allein an einem pädagogisch völlig unbegabten Zahnarzt lag.

 

Auch im Erwachsenenalter gab's sicher auch noch einige unlustige Erlebnisse.

Wie zum Beispiel ein Bänderriss im Knöchel, der so weh tat, dass mir buchstäblich schlecht wurde (und gleichzeitig auch noch von einem Bus voller Schulkinder ausgelacht wurde, weil die meine Bruchlandung aufgrund einer Gehsteig-Unebenheit miterlebt hatten).

 

Schmerzen haben eine Schutzfunktion - das weiß man.

Um uns vor größeren Schäden zu bewahren, zum Beispiel.

Um uns um Dinge zu kümmern, die uns dringlich betreffen.

Sie können Gefahr im Verzug abwenden.

Das ist ja ganz schön, aber:

Manchmal ergeben Schmerzen auch einfach keinen Sinn - man kann es drehen und wenden, wie man will.

 

Bei einer Krebserkrankung sind sie eine ungeliebte, oft gefürchtete Begleiterscheinung, und man kann dagegen vorgehen - in den meisten Fällen.

Jeder hat dabei unterschiedliche Ansätze, und so können es Hausmittel oder Chemiekeulen sein. Oder beides.

In einigen Fällen und zu manchen Zeiten ist Schmerzlinderung sogar das einzige Ziel.

Vor allem, wenn der Schmerz alles andere aus dem Bewusstsein verdrängt.

 

Auch an mir ging der Schmerzkelch leider nicht vorüber.

Ich denke, ich hätte mir mit entsprechenden Medikamenten im Bedarfsfall nahtlos helfen können, aber manchmal wusste ich einfach nicht, was "dazugehört" und was "vermeidbar" ist.

Die Schmerzen hielten sich zudem ja auch an keine Regeln.

Sie waren da oder halt nicht.

Ich machte meinen Frieden mit ihnen, und manchmal auch nicht.

 

Ich glaube, es hätte mich schwerer erwischen können, und ich bin dankbar, dass das nicht der Fall war. Aber es reichte auch so.

Meine Chemo war sehr stark, und die wohl belastendste Nebenwirkung in meinem Fall war eine Art Knochen- oder Muskelschmerz.

Zwischen meinen Schulterblättern oder auch in meinen Schienbeinen war mein Bewusstseinsfokus gelandet, und auch wenn es nie recht lange dauerte, so hielt ich es nur deswegen (mehr oder weniger) stillschweigend aus, weil ich den Sinn dahinter (den es für mich manchmal gab oder halt nicht) nicht vergessen wollte.

 

Geht's mir scheiße, geht's dem Krebs (dem Hundling) auch scheiße. Hoffentlich!

 

Das half mir manchmal.

Aber manchmal machte es mich auch mutlos oder zornig, zermürbte mich oder saugte mir das vermeintlich letzte bisschen Kraft aus den Knochen.

 

Nein, an Schmerzen gibt's nichts Gutes.

 

Nicht immer hat man die Energie, sich dagegenzustemmen, den Schmerz "auszuhalten" (wobei das auch grundsätzlich keine gute Idee ist) oder zu vertreiben.

Zumal er sich eh scheinbar an seine eigenen Regeln hält.

 

Schmerz tut weh.

Er nötigt uns manchmal einen Respekt ab, dem wir ihm aber nicht zugestehen wollen.

Er ist der scheinbar übermächtige Gegner.

 

Aber wir hören nicht auf zu hoffen und darauf zu warten, dass sich das Blatt wendet und wir wieder Oberhand gewinnen.

 

Bis wir den Fuß wieder aus den Fahrradspeichen ziehen und wieder durchatmen.

Und uns irgendwann an den Schmerz nicht mehr (so gut) erinnern können.

 

 


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar vom Beratungsteam der Krebshilfe OÖ

 

Text: Mag. Monika Hartl (Psychoonkologin, Gesundheits- und klinische Psychologin)

 

 

Schmerz lass nach!

 

Wenn man an Krebs denkt, oder davon hört, haben die meisten Menschen Bilder im Kopf.

Manche, die durch Erinnerungen entstanden und geblieben sind, manche die durch „Hören und Sagen“ auftauchen, oder eben in unserer Vorstellung und Erwartungshaltung so sind.

„Krebskranke bekommen nebenwirkungsstarke Therapien, die Übelkeit und Erbrechen auslösen, verlieren dadurch stark an Gewicht, verlieren die Haare und haben oft unerträgliche Schmerzen.“

So oder ähnlich können diese Bilder sein.

Schmerzen machen uns Angst und wir versuchen Situationen zu vermeiden, die Schmerzen verursachen könnten. (Z.B. Angst vor dem Zahnarztbesuch)

 

80% aller Tumorpatienten leiden zumindest zeitweise unter Schmerzen.
Besonders langanhaltender starker Schmerz belastet die Betroffenen extrem und ist ein massiver Krafträuber, der Betroffene (Patient:innen und Angehörige) zeitweise verzweifeln lässt.

Umso wichtiger ist eine individuelle, schnell wirksame Behandlung. Umso schneller und umso besser Erkrankte IHREN Schmerz beschreiben, umso schneller und besser kann geholfen werden.

 

Ziel der Schmerztherapie ist weitgehende

 

-        Schmerzlinderung,

 

-        Behandlung der Schmerzursache,

 

-        Behandlung der Symptome

 

-        Mit eventuell ergänzenden Maßnahmen, wie z. B. Akupunktur, Erlernen von Entspannungstechniken,     Physiotherapie und Ähnliches.

 

 

Niemand kann die Intensität von Schmerzen besser einschätzen und beschreiben, als die Patient:innen selbst.
Manchmal kann es hilfreich sein, ein Schmerztagebuch zu führen um die Schmerzintensität, den Zeitpunkt des Auftretens, Lokalisation, Zeitpunkt und Dosis der Einnahme der Medikamente, Wirksamkeit und Dauer der Wirksamkeit der Medikamente zu dokumentieren und entsprechend genau dem Ärzteteam zu beschreiben.
Dazu können noch eventuelle Nebenwirkungen wie Übelkeit und Müdigkeit dokumentiert werden, um die bestmögliche „personalisierte“ Schmerztherapie zu finden.

„Ich muss eh schon so viele Medikamente nehmen, ich möchte meinem Körper nicht auch noch so starke Schmerzmittel zumuten.“

„Ich möchte nicht dauernd jammern.“

„Der Schmerz nimmt mir jede Kraft und Lebensfreude und macht mich aggressiv.“

„Ich halte das nicht mehr aus.“

„Mein Schmerz raubt mir den Atem und den Schlaf!“

Solche und ähnliche Aussagen hören wir in der Beratung sehr oft.

 

Der körperliche Schmerz verursacht Stress und Anspannung, dadurch verstärkt sich der Schmerz, der wiederum den Stress und die Anspannung verstärkt und schon befindet man sich einer Schmerzspirale.

Nicht zu vergessen ist auch die Angst davor, dass der Schmerz wieder beginnt, oder wieder stärker wird.

Schmerzen zermürben, beeinträchtigen unseren Alltag, unsere Lebensfreude und schränken uns in den sozialen Kontakten ein.

SCHMERZ TUT WEH. Körperlich und psychisch.

Dauerhafter Schmerz belastet natürlich auch die Psyche und lässt uns innerlich verzweifeln.

 

Deswegen ist es unglaublich wichtig, so schnell als möglich mit der richtigen Schmerztherapie zu beginnen.

Verständlicherweise wollen Patient:innen nicht noch zusätzlich zu den nötigen Behandlungen stationär ins Krankenhaus, aber manchmal ist das zur Einstellung der richtigen Schmerztherapie der effizienteste Weg.

Richtig eingestellt, kann die Schmerzbehandlung dann zuhause weitergehen.

Und nein – es ist kein Jammern, wenn man ausspricht, wie belastend der Schmerz erlebt wird und Hilfe annimmt.

Umso früher umso besser.

 

Ich bin mir übrigens sicher, dass auch ein Indianer Schmerz kennt und in diesem Fall gerne zum Medizinmann geht.

 

 

 

 

 

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