Eine unaussprechlich-aussprechliche Reise

Jetzt ist Boldi also mittendrin in der Therapie.

 

Als ich sie noch vor wenigen Wochen zum Diagnostik-Aufklärungsgespräch in die Klinik begleitete, sprach man das Unaussprechliche bereits aus - weil man wusste, dass es zumindest im Bereich des Möglichen lag.

 

"Es kann alles sein", sagte der Arzt. "Gut oder böse."

 

Nein, genau genommen hatten wir das Unaussprechliche bereits vorher in Worte gefasst.

 

KREBS.

 

Hoffentlich nicht - kann aber sein... auch wegen gewisser Risikofaktoren. Aber wie es so ist, wischt man das lieber zur Seite und hofft auch ein Happy End mit irgendeiner Harmlosigkeit. Dennoch schwebte das Worst Case Szenario als Fragezeichen in der Luft, weil alle näher Beteiligten die Sache realistisch betrachteten. Am allermeisten tat das Boldi selbst.

 

Und nun ist es tatsächlich Realität.

 

Die "Maschinerie" ist bereits in Gang.

Noch vor kurzem - bevor alles losging - konnte Boldi es kaum erwarten, dass es endlich losging. Die Diagnostik war längst abgeschlossen, der Therapieplan stand. Es hieß nur noch Warten auf den Tag X.

 

Unglaublich, wie klar, pragmatisch und fokussiert die Einstellung vieler Patient*innen vor Behandlungsbeginn und auch währenddessen ist. Ich weiß, es gelingt nicht jedem (weil es immer von vielen unterschiedlichen Faktoren bezüglich Diagnose, Therapie, Konstitution etc. abhängig ist), und es soll hier auch nicht der Eindruck vermittelt werden, dass dies der einzige erstrebenswerte Zustand sein sollte. Superwoman - Superman. Nein... zu plakativ.

 

Ich hatte damals das Glück, dass ich mit Kraft und Mut an die wohl schwerste Aufgabe meines Lebens herangehen konnte, und wie es schien - nein, scheint - kann das auch Boldi. Nicht immer und nicht immer übermäßig, aber überwiegend eben doch.

 

Ihre tief drinliegenden Sorgen und Ängste kennt nur sie und das meiste davon macht sie mit sich selbst aus. Auch das geht vielen so.

 

Es gibt keinen "Ideal-Therapieverlauf", was die eigenen Kräfte und den eigenen Gemütszustand betrifft. Niemand ist einfach NUR stark und optimistisch - zumal es leider auch Betroffene gibt, die keine optimistisch stimmende Aussichten haben.

 

Jetzt war also alles längst in Gang gekommen, die zurückliegenden Weihnachtsfeiertage standen unter anderen Vorzeichen - wenn man so etwas vorher schon wüsste, würde man jedes "normale" Weihnachten viel mehr genießen, nicht wahr?

 

Nun rieselten auch noch die Haare.

Für Boldi war das vor Therapiebeginn - anders als bei mir - ein großes Thema, das ihr mindestens ein mulmiges Gefühl bescherte.

Klar war auch: Mit dem Verlust der Haare würde die Krankheit auch ihre sichtbare Seite zeigen, und nicht jede*r schafft es, dem Ganzen mit Schulterzucken zu begegnen.

Nun, da die Strähnen sich nach und nach verabschieden, hat Boldi sich schon entschlossen, dem "Drama" nicht länger zuzusehen, sondern sich radikal den Kopf scheren zu lassen.
(Und sie hat es getan - mit Stärke und sogar Humor.)

 

Was sein muss, muss sein - das ist Boldis Credo.

Es hilft kein Jammern.

Egal, ob es um die Diagnose an sich, um Schmerzen, Kraftlosigkeit oder die Haare geht.

Auch das kann selbstverständlich nicht jeder so nehmen und betrachten.

Wir alle haben so unterschiedliche Herangehensweisen an das "Unaussprechliche".

 

Ich spüre Boldis WOLLEN, das ich ihr wiederum gewünscht habe.

Noch mehr wünsche ich ihr, dass sie Mut und Willenskraft auch dann nicht verlassen, wenn es schlechte Tage und Rückschläge geben sollte.

"Ich habe mich an das, was du geschrieben hast, gehalten", erzählt mir Boldi.

"Jedes Mal, wenn ich bestrahlt werde oder eine Chemo bekomme, denke ich: Bitte hilf mir... und schade mir nicht zu sehr."

 

Ich bin stolz.

Nicht weil ich in meiner diskutablen Heilsbringer-Rolle, in die ich hineingestolpert bin (oder sie viel mehr an mich gerissen habe), wieder mal glänzen kann - sondern weil sie tatsächlich stolz sein kann.

Auf sich und das, was sie jeden Tag leistet.

 

"Du weißt, ich beklage mich nicht", sagt sie wahrheitsgemäß und spielt ihr eigenes Zutun herunter.

Manchmal - nicht immer.

"Dürftest du aber", sage ich und meine das auch so.

 

Wenn man die eigenen, sich oft summierenden Unzulänglichkeiten, Tiefschläge oder einfach nur die "Weh-Wehchen" auch mal wahrnehmen und spüren darf, schätzt man die erhellenden, positiven, stärkenden Impulse vielleicht umso mehr.

 

Eine Krebstherapie ist eine Achterbahnfahrt mit Hochs, Tiefs und so manchen Loopings.

Eine Achterbahnfahrt, die niemand gerne macht.

Wichtig ist, dass man die Gelegenheit zum Pausieren zwischen den Fahrten bekommt.

 

Ich erinnere mich, wie ich im Krankenhaus an einem schlechten Tag - kurz nach den Diagnosen - wütend und verzweifelt bei der mir noch nicht sonderlich vertrauten Psychoonkologin saß.

"Ich habe das Gefühl, ich verliere die Kontrolle", sagte ich ihr. "Das passiert alles mit mir, und ich kann nichts dagegen tun. Ich bin fremdgesteuert."

"Doch, das können Sie", sagte sie nach einer kurzen Pause. "Sie sitzen oder stehen in einem Waggon oder Wagen, und Sie können das Fahrtziel nicht kontrollieren - aber Sie können für Fahrtunterbrechungen und Pausen sorgen, um sich wieder zu erholen und Kräfte zu sammeln."

 

Diese Fahrt, Boldi - deine Fahrt - ist schon lange nicht mehr unaussprechlich.

Sie ist längst deine, unsere Wahrheit geworden.

Ich sehe, wie du lernst und dich traust, da und dort ein wenig ins Steuer zu greifen, nach deinen Bedürfnissen zu forschen und dahinterzustehen.

 

Wir wissen, dass du nicht ängstlich auf deinem Fahrplatz kauerst und dich vor jeder Kurve fürchtest.

Wir wissen, dass du gerade Erfahrungen machst,die du in dieser Form sicher nie wolltest, aber sie lehren dich auch wertvolle Dinge über dich selbst:

Kraft, Mut, Aufrappeln nach dem Fall.

 

Wir kennen das Ende der Fahrt, der Reise nicht.

Wüssten wir es - wüsstest du es - würdest du nicht alles auf die gleiche Weise und die gleiche Art in diese Fahrt "hineinschmeißen".

Manchmal ist es okay, nicht schon vorher alles zu wissen.

 

"Du machst das schon", habe ich dir kürzlich geschrieben.

 

Und ja - sie macht das schon.

Sie ist längst unterwegs.

 


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar vom Beratungsteam der Krebshilfe OÖ

 

Text: Mag. Monika Hartl (Psychoonkologin, Gesundheits- und klinische Psychologin)

 

 

In unseren Beratungsgesprächen lernen wir viele Heldinnen und Helden kennen. Jede/jeder kommt mit individuellen Anliegen, Sorgen, Ängsten, Fragen, aber auch Bewältigungsstrategien zu uns in die Krebshilfe.
Eines haben alle gemeinsam, als Patient:innen oder Angehörige: eine Krebsdiagnose.

 

Heldinnen und Helden - weil ich immer wieder davon beeindruckt bin, wie mutig, zuversichtlich und voller Kraft sich die Betroffenen dieser Lebensaufgabe stellen.

Natürlich wirbelt die Diagnose bei den meisten vorerst alles durcheinander.
Mir fällt – jetzt kurz nach Weihnachten - das Bild einer Schneekugel ein, die geschüttelt wurde. Es braucht Zeit bis sich das Innenleben beruhigt.
Für Patient:innen bedeutet das Fragen stellen können, Antworten bekommen, dadurch Orientierung zu erhalten und Vertrauen in das Ärzteteam, die Behandlung und vor allem in sich selbst zu bekommen.  Und ja, es bedeutet auch Klarheit zu bekommen und sich mit dem auseinanderzusetzen, was da ist.
Auch wenn man es am liebsten nicht hören würde.

 

Krebs“! Der, dessen Name nicht gehört und nicht ausgesprochen werden möchte. Schon gar nicht wenn es einen selbst trifft. (Wie der Bösewicht Voldemort bei Harry Potter…)


„Krebs“! Die Diagnose, die die meisten Ängste und Sorgen auslöst und als Bedrohung erlebt wird.
Manche Erkrankte umschreiben anfangs die Diagnose, geben dem „Bösen“ einen anderen Namen oder sprechen „das Wort“ zumindest nicht ihren Angehörigen gegenüber aus. So als ob es dann nicht wahr wäre.

Es macht Sinn dem Unaussprechlichen den Schrecken zu nehmen.
„Klarheit vor Harmonie“!

Mit der Zeit schaffen es die meisten, klar und deutlich zu benennen, was sie derzeit haben und wie sie – gemeinsam mit dem Ärzteteam – gegen die Krankheit vorgehen werden.

Und dann sind sie mittendrinnen in dem Waggon, so wie Marlies es beschreibt. Die Therapie, diese persönliche Fahrt hat begonnen. Eine oft recht lange und auch anstrengende Reise.
Eine Reise, die Pausen braucht. Zwischenstationen, um die weitere Route zu besprechen, Etappensiege zu feiern und Kraft zu schöpfen für die nächste Etappe.
Pausen, um nachzuspüren, was man im Moment braucht, wer und was gut tut und was nicht und auch um „Dampf abzulassen“.
Ja, es ist normal, dass es auch schlechte Momente, Stunden, Tage geben kann, so wie Marlies es beschreibt „Weh-Wehchen“ und Tiefschläge. Sich das selbst einzugestehen und auch auszudrücken ist kein Rückschlag und auch kein Zeichen von Schwäche, kein Klagen, sondern eine verständliche Reaktion auf (über)anstrengende Etappenabschnitte.
„Wahrnehmen, spüren, ausdrücken, aussprechen, loswerden!“

So wie Marlies schreibt: “Kraft, Mut, Aufrappeln nach dem Fall“!

 

Und dann kann die Reise wieder weitergehen.
Für dich, liebe Boldi und all die, die gerade unterwegs sind.

Der Weg ist das Ziel“
(Konfuzius)

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Helmuth (Dienstag, 11 Januar 2022 06:44)

    Ja, Boldi ist auf dem Weg.
    Viel Kraft und alles Liebe!