Heilsbringer

 

Ein Krankenhaus-Termin steht an.
Na, das bin ich ja gewohnt – auch wenn „mein“ Spital mich ja schon längere Zeit nur noch halbjährlich sieht.
Diesmal geht es aber gar nicht um mich.
Ich bin Begleitperson … und soviel „einfacher“ ist das nicht wirklich.

Zumindest nicht für mich.

Ich gehe mit einer mir nahestehenden Person. Nennen wir sie Boldi.
Für Boldi ist der Termin mit Stress verbunden. Ein unklarer Befund erfordert weitere Untersuchungen und sogar einen Eingriff.
Heute werden erst mal Vorbereitungen getroffen. Boldi stellt sich mit einer Überweisung in einer Ambulanz vor - in einem Krankenhaus, das ihr fremd ist. Aber auch ich bin dort zum ersten Mal.

 

Gute Vorbereitung ist alles. Das gibt mir ein Gefühl von Kontrolle.
Ich sehe mir die Lage der Klinik auf Google Maps an, studiere den Lageplan und recherchiere, ob es in der Nähe ein Kaffeehaus gibt, in dem wir noch etwas trinken können, bevor der Termin ansteht.

 

Während ich die Adresse ins Auto-Navi eingebe, fühle ich mich gut. Ich habe alles im Griff.
Ich bin die „Heilsbringerin“, die Boldi alles so gut wie möglich abnimmt, so dass sie sich kaum um etwas kümmern muss.
Es gibt ein paar erschwerende Umstände, die es Boldi nicht so leicht machen, sich mit den auf sie einströmenden Eindrücken auseinanderzusetzen.

 

Daher mache ich den Chauffeur und sorge für einen möglichst kurzen Fußmarsch zum Krankenhaus, in dem ich den „perfekten“ Parkplatz finde.
Es muss mal wieder alles perfekt sein in meinen Augen.

Die durch Corona komplizierteren Anmeldeformalitäten erledigen wir geduldig und betreten die Klinik, um den Ambulanz-Bereich B zu suchen.
Am Schalter helfe ich auch dort bei der Anmeldung, und dann nehmen wir im Wartebereich Platz.

 

Das heißt, Boldi sitzt – ich stehe. Um keinem anderen Patienten den Sitz wegzunehmen (es darf ohnehin nur jeder zweite benutzt werden), und weil ich so hilfsbereit und umsichtig bin, und außerdem heilsbringend, falls ich das noch nicht erwähnte.

 

Die Wahrheit ist vermutlich eher, dass ich im Stehen, mit dem Rücken zur Wand, alles etwas besser überblicke. Den gesamten Wartebereich, die großen Schiebetüren, die zu den einzelnen Ambulanz-Abteilungen führen, die Gänge mit den PVC-Böden.

 

Schon unglaublich, wieviele Details da wie Rädchen ineinandergreifen und ich – trotz fremder Umgebung – mich mit so einigem vertraut fühle.

Da sind die Ärzte mit ihren wehenden Kitteln. Die, die kräftigere Farben tragen, wecken meine Aufmerksamkeit am meisten. Das sind die Operateure, die Chirurgen, die Götter in Grün.
Mit raschelnd-quietschenden Kreppsohlen-Gummischuhen gehen sie nicht – sie schreiten… in raschem Tempo, und ihre Aura gebietet: Sprich mich nicht an. Ich habe gerade ein Leben gerettet.

Boldi kontrolliert in ihrer Tasche, ob sie alle nötigen Befunde parat hat, wenn sie aufgerufen wird, und sie fragt mich zum wiederholten Mal, ob ich nicht vielleicht doch sitzen will.
Will ich nicht.
Ich muss weiter den Überblick behalten.
Ich beobachte, was um mich passiert, und versuche die kleine flimmernde Kugel zu ignorieren, die in meiner Magengrube umherrollt.

Ich bin nervös.
Ich bin für Boldi nervös.
Ich „übernehme“ wahrscheinlich schon wieder Dinge, die nicht meine sind, aber so bin ich eben.
Doch die starke, heilsbringende Begleiterin zu sein, gibt mir ein Gefühl von „Ich checke alles“.

Der Lautsprecher knackt, ein Name wird aufgerufen. Ich zucke kurz zusammen, aber wir – nein, Boldi ist noch nicht dran.

Da ist ein junges Mädchen mit einer Nasenschiene, die vor der HNO-Ambulanztür wartet. Sie muss sich immer wieder die FFP2-Maske ein Stück wegziehen, um Luft zu bekommen. Offenbar kann sie nur durch den Mund atmen.
Jemand wird in die Ambulanz gebeten, und die Mutter des Mädchens fragt im genervten Ton, warum andere Personen, die nach ihnen gekommen waren, nun vor ihnen dran sind. Der junge Assistenzarzt erklärt, dass die Patienten nicht nach ihrer Ankunft gereiht werden, sondern nach Dringlichkeit. Er deutet auf ein deutlich lesbares Schild an der Schiebetür.
Ich schnaube leise. Helikopter-Mami hätte nur mal genauer hinschauen sollen, dann wär sie im Bilde gewesen.

Ich dagegen bekomme weiter alles mit, was um mich passiert.
Die schlurfenden Schritte des älteren, sehr dicken Mannes, der seine grau gewordene Maske unter der Nase trägt.
Den jungen Mann mit dem Handy, der sich durch Instagram-Bilder scrollt und sonst ziemlich unbeteiligt wirkt.
Da sind die beiden Frauen, die sich etwas zu lautstark unterhalten, und es nützt leider nichts, dass ich ihnen einen bösen Blick zuwerfe.

Auf einmal wird Boldi aufgerufen, und fast automatisch mache ich Anstalten, sie zur Untersuchung zu begleiten. Es ist wie ein Reflex. Wenn schon die Dinge checken und regeln, dann doch bitte zu 100%, oder?
Die medizinisch-technische Assistentin weist mich in meine Schranken (zu Recht) und sagt, ich könne beim anschließenden Arztgespräch dabei sein.
Na, da kannst du aber sicher sein!

Jetzt, da Boldi weg ist (und auch eine ganze Weile nicht wiederkommt), fühle ich mich seltsam allein und verwundbar.
Die Triggermaschine ist am Laufen, das Da-müssen-wir-jetzt-durch-Programm läuft auf Hochtouren, und ich könnte meine Smartwatch eigentlich befragen, ob sich mein Puls im dreistelligen Bereich bewegt.

Ich zucke leicht zusammen, als ein junger Arzt mit storchenähnlich dünnen, weißbewandten Beinen an mir vorbeirauscht.
Ich habe keine Angst, aber ich erwarte fast, selbst aufgerufen zu werden…. jede Sekunde.

Schließlich setze ich mich dann doch hin, bewache Boldis Sachen, die sie bei der Untersuchung nicht braucht, und fühle mich gar nicht mehr so obercheckermäßig superstark.
Die eigentlich Starke ist Boldi, die nach über einer halben Stunde endlich wieder in den Wartebereich kommt, und schon darf sie durch meine persönliche Kontrollinstanz laufen.
Sitzt Boldi? Ja, sie sitzt. Hat sie Durst? Ja, sie hat Durst. Ich eile und bringe ihr einen Becher Wasser vom Spender in der Ecke.
Ich frage, wie es war, doch weiter kommen wir nicht, denn wir – nein, Boldi – nein, doch irgendwie WIR werden zum Arztgespräch gerufen.

Vier Ohren hören mehr, und so sitze ich als aufmerksame, kompetente Begleitperson auf dem Sessel im Halbdunkel (?) des kleinen Raumes. Boldi neben mir, und der gebrochen Deutsch sprechende Arzt uns gegenüber.
Ich merke mir alles für Boldi, falls sie das nicht schafft, und ich stelle ein, zwei interessierte Fragen.

Nicht lange danach sind wir - mit einem Termin für den Eingriff und dazugehörigen Informationen - gewissermaßen entlassen, und als wir durch den Haupteingang der Klinik nach draußen gehen, atmen wir wohl beide durch.

Na, dann habe ich ja noch 14 Tage Gnadenfrist“, meint Boldi dünn lächelnd, und in Gedanken überlege ich schon, wie, wann und womit sie Vorbereitungen für den stationären Aufenthalt treffen kann.
Ich kann sie dann nicht mehr begleiten, wenn es soweit ist, da ich arbeiten muss. Wohl zum Glück für das Klinikpersonal, da ich meine heilsbringerischen Tätigkeiten bestimmt bis zur Bettenstation erstreckt hätte. Wer weiß – vielleicht hätte ich mein eigenes Bett in Anspruch genommen, um weiter alles im Griff zu haben?

 

So aber muss Boldi das alles ohne mich hinter sich bringen, aber es gibt ja noch andere Helferleins. Vielleicht sogar weniger zwanghafte. ;-)

Ich atme die frische Luft ein und lasse meinen Blick über die Weinberge am Horizont streifen.
Boldi hätte auch ein Krankenhaus in wahrlich hässlicherer Gegend als dieser erwischen können.
Möchtest du noch im Einkaufszentrum in der Nähe vorbeischauen?“ frage ich und rechne damit, dass meine tapfere Gefährtin vermutlich zu erledigt sein wird.
Doch weit gefehlt.

Keine halbe Stunde später streife ich ziellos umher, schaue halbherzig in den Elektrogroßmarkt und in die Buchhandlung, aber eigentlich bin ich froh, froh, froh, dass Boldi – nein, WIR – den Krankenhaustermin hinter uns haben. Für’s erste.

Danke, dass du mich begleitet hast“, sagt Boldi später zu mir und drückt meinen Arm. „Das hat mir wirklich viel bedeutet.
Ich nicke und lächle. „Gar kein Problem“, sage ich und meine es so.

Nein, Problem war es wirklich keines.
Ist ja auch schön, wenn man jemandem eine Freude machen kann.
Nebenbei stellt man vielleicht sogar fest, dass man mit allerlei eh schon bekannten Verhaltensmustern immer noch die eigenen „Traumen“ verarbeitet.
Sogar noch nach 9 Jahren. ;-)


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar vom Beratungsteam der Krebshilfe OÖ

 

Text: Mag. Monika Hartl (Psychoonkologin, Gesundheits- und klinische Psychologin)

 

 

An Krebs zu erkranken, oder allein schon der Verdacht auf eine Krebserkrankung betrifft nie „nur“ die Erkrankten, sondern immer auch deren Angehörige und Freund:innen.
Die Diagnose Krebs löst Bilder, Ängste, Sorgen, Unsicherheiten und Vieles mehr aus.

 

In dieser Situation nicht alleine zu sein, von vertrauten Bezugspersonen begleitet und unterstützt zu werden ist eine große Hilfe.

 

Angehörige versuchen in dieser Zeit eine gute Stütze zu sein, begleiten zu Untersuchungen, Befund- und Therapiegesprächen, übernehmen eventuell vorübergehend neue Aufgaben in der Kinderbetreuung und im Haushalt, „fiebern und zittern“ mit, geben gutgemeinte Ratschläge und sind natürlich auch sorgenvoll.
Neben den Ängsten und Sorgen um die Erkrankten, fühlen sich viele Angehörige hilflos und überfordert, wollen dies aber nicht zeigen, um „stark“ zu bleiben. Dabei kann es passieren, dass die eigenen Bedürfnisse fast vergessen und die Kraft und Stärke immer weniger werden. Keine gute Idee!

Kommen Erkrankte zu uns in die Beratung, ermutigen wir diese, bei ihrem Umfeld klar anzusprechen was sie brauchen, was Ihnen gut tut, wie „man“ sie unterstützen kann – und wie eben nicht.

 

Kommen Angehörige zu uns in die Beratung, ermutigen wie diese, trotz aller Fürsorge für die Erkrankten nicht auf sich selbst zu vergessen, d. h. auch gut zu hinterfragen, wie man unterstützen kann, wofür die eigenen Fähigkeiten und Kräfte ausreichend vorhanden sind – und wofür eben auch nicht.

 

Als Angehörige:r bin ich zuallererst immer noch z.B. Ehefrau oder -mann, Tochter, Sohn, Schwester,… und nicht Ärztin, Seelsorger:in, Psycholog:in, usw.

 

Ich kann als Angehörige:r alles übernehmen, was für mich passt, es ist aber auch völlig in Ordnung manches nicht zu können, zu schaffen oder zu wollen.

Wie kann ich nun als Angehörige:r gut unterstützen?

 

  • Falls es pandemiebedingt erlaubt ist, zu Befund- und Therapiegesprächen mitgehen -
    4 Ohren hören mehr und man darf niemals vergessen, dass sich Betroffene bei diesen Gesprächen in der Regel in einer emotionalen Ausnahmesituation befinden.

  • Zuhören, unterstützen, motivieren, trösten, Mut machen,… - dabei sein. Zusammen ist man weniger allein.

  • Ein guter/eine gute Beifahrer:in sein, d.h. die Erkrankten sitzen am Steuer, treffen ihre Entscheidungen, gehen auf ihre Art und Weise und in ihrem Tempo mit der Krankheit um und dürfen liebgemeinte Ratschläge ablehnen. Angehörige begleiten als Beifahrer:innen, geben aber nicht den Weg und das Tempo vor.

  • Die Entscheidungen der Erkrankten respektieren.

  • Hilfe und Unterstützung anbieten, bzw. nachfragen, wie man unterstützen kann. Nicht aber ungefragt übernehmen oder „zwangsbeglücken“.

  • Den Erkrankten zutrauen, dass diese wissen, was gut für sie ist.

  • Vertrauen haben in die Behandlung und das Ärzteteam, für die sich die Erkrankten entschieden haben.

  • Alle Emotionen dürfen gezeigt und ausgedrückt werden. Das gilt für die Erkrankten ebenso, wie für die Angehörigen. Niemand kann immer „positiv“ denken. Auch Ängste, Sorgen, zeitweise Mutlosigkeit und Verzweiflung gehören dazu, das ist ganz normal. („Liebe B.! Da denke ich immer an dich.“)

  • Die Erkrankten nicht ständig wie „Kranke“ behandeln, in „Watte einpacken“, ihnen alles abnehmen und sie schonen wollen – sondern so normal wie irgendwie möglich behandeln

  • Klarheit vor Harmonie“ – klar ansprechen, wenn es offene Themen, Fragen und Bedürfnisse gibt.

  • Zu guter Letzt: Gut für sich selbst sorgen, sich Auszeiten gönnen, „sorgenfreie, krebsfreie Zonen“ schaffen und zwar ohne deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Ein kraftloser Angehöriger kann keine gute Unterstützung sein.

 

So kann man bestmöglich miteinander und füreinander durch diese herausfordernde Zeit der Diagnose, Behandlung und Nachsorge einer Krebserkrankung gehen.

 

Menschen zu finden, die mit uns fühlen und empfinden, ist wohl das schönste Glück auf Erden.“ 

(Carl Spitteler)

 

 

 

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