Chlor-Pommes

Seit ich meinen E-Roller habe, mache ich mehr und mehr die Erfahrung, dass es besser ist, sämtliche (für die Fahrt relevanten) Körperöffnungen am besten geschlossen zu halten.

Selbstgespräche sind da zum Beispiel keine gute Idee.

 

Es soll Fälle geben, da wurden kleinste Insektenbabies nicht mehr in den Zahnzwischenräumen gefunden. Einfach verschwunden!

Es macht auch keinen Spaß, darüber nachzusinnieren, ob das Ding, das da eben im vollen Fahrtwind bei 25 km/h gegen deinen Gaumensegel geprallt ist, eine unglückliche Mücke oder womöglich eine Biene war. Du schluckst das Ding in Sekundenbruchteilen hinunter und weißt: Jetzt ist es eh zu spät - und Hauptsache, es schmeckt nach nix. Oder sticht mich.

Daher: Besser den Mund geschlossen halten. Besonders am späten Abend. Besonders beim Entlangfahren an der Au.

Und die Sonnenbrille. Vergiss die Sonnenbrille nicht!

 

Weil mein Hirn seit Wochen an extremer Überforderung und Multibeanspruchung leidet und sich die Dinge im Allgemeinen gerade eher zuspitzen, genieße ich also die Ausfahrten mit meinem neuen Baby, das ich seit einigen Wochen mein eigen nenne.

Ich kann den Kopf so etwas auslüften, genieße den (einigermaßen) kühlen Fahrtwind und immer wieder anflugsweise ein Gefühl von Freiheit. Es sind die kleinen Dinge. Hab ich's schon mal erwähnt?

 

Was mir unerwarteterweise besonders auffällt, sind die verschiedenartigen Gerüche.

Wenn ich bei Sonnenuntergang durch die Straßen einer ruhigen Siedlung kurve, sind das in Sekundenbruchteilen kleine "Duftbömbchen", die da wären:

Bratwurst, geschnittenes Gras, Kaugummi, Veilchen, Red Bull, Chlor.

Gut, das klingt jetzt nicht besonders berauschend, aber ihr könnt mir glauben, dass von Straßenecke zu Straßenecke sich die Geruchsarchitekturen und -intensitäten in Sekundenbruchteilen ändern, hochschaukeln, abflachen und einen niemals auch nur ansatzweise bedrängen.

Und "auf dem Land" geht's dann erst richtig los:

Heu, Blumen aller Art, "der Geruch nach Sommer", Düngemittel, Apfelkuchen (ja, tatsächlich!), Beeren.

Meine Nasenflügel sind wie die geblähten Segel eines Wikinger-Schiffs, und ich kann mir das auch nur leisten, weil ich seit beinahe 9 Jahren Nichtraucherin bin und sich mein Geruchssinn wieder vollständig erholt und neu justiert haben dürfte.

(Was das für die Mücken und damit auch für mich bedeutet, könnt ihr euch ja denken.)

 

Als ich also gestern, wieder mal volltrunken von den verschiedenartigen Gerüchen, mit Sonnenbrille und fest verschlossenem Mund, durch die Gegend slide, um meinem selbst auferlegten Lerndruck die Macht über mich ein wenig abzuknöpfen...

... da fahre ich am eingezäunten Areal eines Freibades entlang, und meine Nasenschleimhaut macht:

BÄM.

 

Chlor.

Pommes.

Gras.

Cola.

Sonnencreme (mit Kokos und ohne).

Kaugummi.

 

Es ist wieder 1983 und damit der beste Sommer meiner Kindheit, den ich in gefühlt jeder wachen Sekunde im heimatlichen Parkbad verbracht habe.

Die Gerüche und Düfte sind exakt dieselben, und sie flashbacken mich so wundervoll-wehmütig zu meinem 10-jährigen Ich zurück, dass ich tief einatme und vermutlich so blöd und breit grinse, dass zumindest 2 1/2 Mücken garantiert ihr Leben verloren haben dürften.

Während ich ferngesteuert am Maschendrahtzaun entlangfahre und die Menschenhorden nur mit einem kurzen Blick bedenke (das Sehen ist halt nicht wichtig, sondern nur das Riechen), halte ich meinen Erinnerungs-Schutzschirm über die kleine Marlies, die mit der Welt zufrieden und angenehm müde, auf einem Handtuch sitzt, ein Cornetto Rum-Trauben in ihren vom Wasser leicht schrumpelhäutigen Fingern hält und der kleinen Schwester dabei zusieht, wie sie mit ihren Schwimmflügeln vom Beckenrand ins Wasser hüpft. Das Planschbecken ist ja Kinderkram (und wie die Legende sagt, enthält es mehr Kleinkinderurin als Chlorwasser), aber sobald die Retro-Marlies mit dem Eis (oder vielleicht den Pommes oder dem Double Dip-Brausepulver) fertig ist, wird sie unweigerlich zu ihrem geliebten Nichtschwimmer-Schwimmer-Becken laufen und im angenehm kühlen Nass Länge um Länge herumschnorcheln und den Umgebungslärm, das Kinderlachen usw. zu einer gedämpften angenehmen Geräuschkulisse verkommen lassen.

Nach einer Weile geht es dann noch zum stahlblauen Springerbecken mit seinem angenehm kalten Wasser und dem Zehner-Turm, wo das Erinnerungs-Ich manchmal todesmutig vom 1 Meter-Brett springt oder einfach nur den mutigen Jugendlichen bei der 5 Meter-Arschbombe zusieht.

Es ist herrlich - es ist Kindheit - es ist sorgenbefreite Glückseligkeit.

 

Wieder in der Gegenwart angekommen, rolle ich an den letzten Freibad-Metern vorbei, und all die Düfte verflüchtigen sich langsam wieder (werden aber auch bald von neuen, anderen abgelöst).

Ich bin kurz wehmütig, aber gleichzeitig auch glücklich, dass ich diese Zeiten hatte, und dass ich sie mir bei meinen Heimatbesuchen zumindest teilweise ein wenig wiederholen kann, denn dieses Kindheits-Parkbad gibt es ja freilich immer noch. Es ist nicht mehr dasselbe... aber vieles ist noch gleich.

 

Jetzt, da ich wieder im Hier und Jetzt bin, spüre ich wieder den Druck im Nacken und in der Brust ("Ich bin schon zu lange weg, ich muss heim und weiterlernen") und da ist noch dies und das, was auf mir lastet und die Erinnerungen der Kindheit zu einem wundersamen Glücksschrein in meinem Kopf werden lassen, den ich - wann immer ich möchte - besuchen kann.

Ob mit Düften oder ohne.

 

Also begebe ich mich wieder zurück in die städtische Hitze, in den Lärm, in das Müssen... zurück zu dem unangenehmen Ball der Versagensangst, der in meinem Magen wieder herumzukugeln beginnt, zurück zu der gerade aktuellen Sorge um einen Menschen und zurück zu einer allgemeinen Erschöpfung, die ich unter der Haut spüre wie verkrampfte Faszien.

 

Während ich das schreibe, ist es Sonntag, wahnwitzigerweise kurz nach 6 Uhr früh, als ich mich gerade wieder in der Phase befinde, das Leben und die Gesundheit für VIEL wichtiger zu befinden als ALLES andere. Es mag Selbstschutz sein - durchaus möglich, aber dennoch ist es wahr.

Als ich vorhin den Blog öffnete, war ich fest entschlossen, aus nachvollziehbar (hauptsächlich) terminlichen Gründen den kommenden Artikel ausfallen zu lassen.

Dann entstand die Idee mit den Düften in meinem Kopf, und dann war das Motto: Okay... einen kurzen, mehr metaphorischen Beitrag kann ich ja schreiben. Würde ja jeder verstehen.

Aber dann...............................

 

Nun stehe ich also vor der Vorstellung, dass sich wieder ein paar Insekten dahin verirren, wo sie nichts verloren haben, und ich - und nicht nur ich - kann mir nicht immer aussuchen, ob es bei der harmlosen Mücke bleibt oder sich mal ein dicker Brummer in die einseitig offene Röhre (= open ear gain) meiner Kehle verirrt.

Ich kann das Ding nur schlucken und das Beste hoffen.

Wie ich gerade für vieles das Beste hoffe.

 

Aber eins ist fix:

Wie Dwayne Johnson, der sich gerade vom Schauplatz einer Explosion wegbewegt, werde ich das BALD - zumindest kurzzeitig - alles hinter mir lassen, den Rucksack packen, mich im Parkbad nach dem Längen-Schnorcheln auf das Handtuch setzen und alles abstreifen (nur nicht den Badeanzug).

 

Es ist ja egal, ob man 10 Jahre ist oder 48, ob man gerade alles leicht nimmt oder einen einiges belastet, ob der Kopf im Hier oder im Dort ist, ob man sich frei fühlt oder nicht:
Man muss lernen, im richtigen Moment den Mund zu öffnen oder zu schließen. Mücken hat jeder von uns hin und wieder mal zu verdauen, und wenn sich mal ein undefinierbares Viech dazugesellt, bei dem man es leider nicht geschafft hat, es von einem abprallen zu lassen... dann gilt halt nur eine Devise:

 

Schluck's runter, damit es sich im Magen zu den Chlor-Pommes gesellen möge.

Sollen die sich das untereinander ausmachen.

 

Mahlzeit!

 

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