Das megakrasse Sterben

Zwei Herzen schlagen, ach, in meiner Brust.

Den Ausdruck habe ich gerade verwendet, als ich meiner Schwester eine unserer liebgewonnen Sprachnachrichten geschickt habe.

Es ging eigentlich um ein ganz anderes Thema (um Ernährung, genauer gesagt), aber dieser Ausdruck passt auch ganz gut auf meinen heutigen Beitrag.

 

Zwei Herzen schlagen, ach, in meiner Brust, weil ich einerseits doch natürlich über mich schreiben will (ist ja mein Blog... über das Leben vor, mit und nach Krebs... ihr erinnert euch) und andererseits doch aus Aktualitätsgründen über jemand anderen.

Über Philipp. Philipp ist Anfang Zwanzig und stirbt. An Krebs - wer hätte das gedacht?

Wenn ich mich also schon nicht zwischen zwei Themen entscheiden kann, dann verquicke ich die beiden doch ganz einfach und vermische sie unpassenderweise zu einem Ganzen. Oder doch passenderweise? Gibt es überhaupt Zufälle? Na, mal sehen, was dabei herauskommt...

 

Gestatten: Marlies. Krebsbloggerin.

Wobei... das passt eigentlich nicht so ganz. Unter Krebsbloggern verstehe ich etwas anderes, und daher habe ich den Eindruck, dass wir uns da schon in zwei unterschiedlichen Welten bewegen.

Philipp, Claudia, Claire........ - und ich.

Diese "Welten" betreffen den Unterschied zwischen ihnen und mir: Sie sind (immer noch) krank und sterben - vielleicht oder sicher. Irgendwann oder sehr bald.

 

Warum liest man Krebsblogs?

Warum hört man Menschen zu, die über ihre Sterben berichten, liest ihre Worte und sieht ihre Videos?

Warum tut man das als eigentlich wieder gesunder Mensch, der sich doch bitteschön dem Leben zuwenden sollte? (Ich höre fast die tadelnde Stimme einer bestimmten Person.)

Vielleicht hilft es anzumerken, dass ich da irgendwie reingerasselt bin. Man kennt das: Man stolpert zufällig über einen Beitrag, ein Video, einen Podcast... und dann will man Genaueres wissen, verfolgt die Entwicklung mit, fängt an zu bangen und zu hoffen. Kann nicht wegsehen (und weiß doch: es ist kein Katastrophentourismus).

 

In meiner aktiven Erkrankungszeit habe ich es vermieden, irgendwelche Krebserfahrungsbücher (womöglich auch noch mit guten Ratschlägen) zu lesen. Ich war in einem Internetforum aktiv, eine Zeitlang, aber damit hatte es sich auch.

Danach bin ich dem Thema Krebs, so gut es ging, aus dem Weg gegangen, und nur diverse Ängste haben mich immer mal wieder reingerissen.

Aber über andere Krebspatient/innen lesen? Nein nein nein. Mag nicht (mehr).

Wollte mich mit dem unfreiwilligen Voyeurismus und der ungewollten Faszination nicht auseinandersetzen und tat es dann doch.

Krebsblogger und -YouTuber (ich lasse das Gendern jetzt, ihr wisst schon) sind wiederum eine andere Welt, die ich eigentlich nicht betreten will und irgendwie doch, denn viele von ihnen sterben und sie wissen es.

 

Meine Güte, wie oft ich in meiner Regenerationszeit von diversen Seiten ermahnt wurde, doch aufzuhören, mich ständig mit KRANKHEIT, STERBEN und TOD auseinanderzusetzen.

Viele Male.

Als wäre es das Schlimmste, was man sich selbst antun kann.

Ich solle mich doch - vereinfacht gesagt - nachdem ich dem Tod nun selbst von der Schippe gesprungen sei, lieber mit Friede, Freude, Eierkuchen, positivem Denken und Tralala beschäftigen.

Denn es gibt soviel Schönes da draußen und als (ehemaliger) Krebspatient hat man das gefälligst noch mehr zu schätzen!

Weg mit dem Tod und her mit dem Leben!

 

Aber so einfach funktioniert das nicht.

Warum es mich immer wieder zum Thema Tod zieht, dürfte darin seinen Ursprung haben, dass ich ihn berührt habe. Mehrfach.

Zum einen während meiner eigenen Erkrankung, denn schon die Tatsache, dass es hätte sein können, dass ich an meinen Krebs(en) sterbe, stand nun mal im Raum und veränderte alles.

Zum anderen weil ich miterlebt habe, wie andere an dieser Erkrankung gestorben sind, und weil mich das empathischer gemacht hat. Teilweise habe ich es hautnah miterlebt. Sich davon nicht prägen zu lassen, ist unmöglich in meinen Augen.

 

Dann ist das Thema STERBEN nichts, was man meiden "sollte". Im Gegenteil: Die Auseinandersetzung damit, die Anerkennung des Kreislaufes von Leben und Tod, ist ein immens wichtiges Thema.

Seit Jahren setze ich mich mit meiner eigenen Angst vor dem Tod (und dem nahestehender Menschen) auseinander, und ich bewege mich in Mikrometer-Schritten vorwärts, in die gewünschte Richtung. Es hat schon sehr lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass ich Angst (im Allgemeinen) nicht bekämpfen kann, und so lasse ich auch den großen schwarzen Vogel vorbeischauen, wenn er es für nötig befindet. (Manchmal tut er das.) Wir haben alle diesen großen schwarzen Vogel in uns, und wir alle stehen an unterschiedlichen Punkten unseres Lebens - und so auch der Vogel.

 

Will man diesen Vergleich bemühen, dann sitzt der Totenvogel auf der Schulter eines jungen Mannes aus Deutschland, der bald an seinem Krebs sterben wird.

Philipp ist meine neueste unfreiwillige YouTube-Errungenschaft. Er hat seine Geschichte in einem Podcast erzählt, und nein - ich kann euch jetzt nicht erzählen, wie toll und stark ich Philipp doch finde, weil er so supertapfer ist und heroisch von seinem Sterben und seinen Erkenntnissen über das Leben berichtet.

In Bezug auf Philipp hatte und habe ich ganz andere gemischte Gedanken und Gefühle - und warum sollte ich lügen?

 

Wollt ihr einen Einblick in meinen Kopf?

Einen ungeschönten, teils zynischen Einblick?

Seid ihr sicher?

Na dann los...

 

Der sieht echt gut aus dafür, dass der bald sterben wird.

Warum muss er sich vor der Kamera so profilieren und seine Geschichte ausschlachten und sich in den Mittelpunkt rücken?

Was? Er wollte kein zweites Mal eine Chemo machen? Na, Junge, dann bist du doch selbst schuld, dass dein Krebs wiedergekommen ist! Außerdem warst du doch schon bei der ersten viel zu negativ eingestellt, wie du erzählt hast ("Gift"). Du hättest das alles freudig annehmen sollen ... hättest du mal eine gefragt, die Bescheid weiß: mich!

Warum hat der eigentich so eine näselnde Stimme?

Und viele Freunde der hat! Warum hab' ich nicht so viele Freunde? Der wird sicher voll geliebt! Warum liebt mich keiner? Moment mal... beneide ich den etwa? In der Situation kann ich den doch nicht beneiden! Bin ich durchgeknallt?

Er ist wirklich hübsch. Dieses Lächeln! Und so jung noch. Man möchte den in den Arm nehmen.

Aber dieser YouTuber-Slang! Warum muss ständig KRASS und MEGA und NICE in jedem gefühlten zweiten Satz vorkommen? Das geht mir auf die Nerven! Ich muss trotzdem weiterschauen.

Armer Kerl.

Wie ist das, wenn man weiß, dass man sterben muss? Der kann jeden Moment tot umfallen. Wie lebt man mit so einer Gewissheit?

Boah, der war in Skandinavien. Sogar in Island. Da will ich auch mal hin. Wie kann sich der das leisten? Der ist bestimmt voll reich, na ja, und dann auch noch die vielen Follower. Ich dagegen... mit meiner Handvoll Stammleser.......

Und warum hält der jetzt seinen Tumor in die Kamera? Wer will das sehen? (Ich, ich, ich!) Aber er ist einfach nur ehrlich... will enttabuisieren. Find' ich super. Aber ich mag ihn nicht. Redet ständig von Jesus. (Ganz klar... in seiner Situation.) Oder ich mag ich ihn doch. Ach, ich weiß auch nicht.....

Zwei Herzen schlagen, ach, in meiner Brust.

 

Schlimm, oder?

Oder wie Philipp selbst sagen würde: krass.

Aber nur ehrlich.

 

Ein tadelnder Zeigefinger würde mich jetzt wieder darauf hinweisen, dass ich mir so etwas nun wirklich nicht geben sollte. Schon gar nicht als wieder Gesundete!

Stattdessen sollte ich jeden Tag meine Gesundheit und die Tatsache, dass es mir an nichts fehlt (mir fiele da schon einiges ein!) lobpreisen. Lebe im Hier und Jetzt! Schätze alles, was du hast. Carpe diem!

Jeden Tag froh sein, dass das Leben etwas anderes für mich bereithält als für den armen Philipp.

 

Ja... eh.

 

Und dann sollte ich eigentlich ein schlechtes Gewissen haben, dass ich mich oft über Nichtigkeiten aufrege und mich dann und wann den Depressionswellen hingebe, wo ich doch eigentlich dankbar sein sollte, dass ich nicht genauso megakrass sterbe wie Philipp.

 

Verändert es etwas in mir?

Ja, das tut es. Auch ganz un-sarkastisch verbinden sich Synapsen in meinem Hirn, die meinen großen schwarzen Vogel und mich selbst in die richtige Position auf dem Schachbrett des Lebens bringen... und dann mache ich an einem Tag diesen Zug, und an einem anderen Tag einen anderen Zug.

Bis ich dann tatsächlich mal schachmatt bin, wird es vermutlich (hoffentlich!) noch viele Philipps, moralische Zeigefinger, Depressionswellen, aber auch Lohnendes und Schönes geben.

 

Was ich begriffen habe, ist:

Dass jemand wie Philipp mich aufblitzenderweise dann und wann mal hämisch/neidisch/feindselig fühlen lässt (ja genau: mich triggert), ist normal.

Ich muss keine Psycho(onko)login sein, um zu wissen, dass Angst vor dem Unbekannten, dem nicht "Fassbaren" dahintersteckt, die durch diese negativen Assoziationen verdeckt wird.

Angst vor einer womöglich (irgendwann) gleichen oder ähnlichen Entwicklung.

Angst vor der Auseinandersetzung mit den Gedanken und Gefühlen, die Philipp hat.

Angst vor dem Sterben eben.

 

Was muss ich dagegen tun?

...

Nichts.

Es akzeptieren, wie es ist.

Wie er damit umgeht, und wie ich damit umgehe-wie-ER-damit-umgeht.

Ganz einfach.

 

Vielleicht, wenn der große schwarze Vogel Philipp dann irgendwann (vermutlich bald) besucht hat, dann werde ich betroffen und traurig sein - zumindest für eine kurze Weile - und dann wird mein Leben normal weitergehen. Ich werde über dasselbe motzen wie vorher, auch wenn ein paar mehr Synapsen in die richtige Richtung aktiv geworden sind.

Irgendetwas wird dennoch anders sein. Es wird nicht gut sein, aber auch nicht schlecht. Nur anders... ein Stückchen weit.

 

Ich kann es nicht erklären.

Daher mache ich jetzt am Ende meines heute mal nicht so nicen Beitrags einen unerwarteten Move und präsentiere euch ein paar passende Zeilen von einem der krassesten Dichter, die ich kenne:

Rainer Maria Rilke

 

Sieh, so ist Tod im Leben. Beides läuft
so durcheinander, wie in einem Teppich
die Fäden laufen; und daraus entsteht
für einen, der vorübergeht, ein Bild.
Wenn jemand stirbt, das nicht allein ist Tod.
Tod ist, wenn einer lebt und es nicht weiß.
Tod ist, wenn einer gar nicht sterben kann.
Vieles ist Tod; man kann es nicht begraben.
In uns ist täglich Sterben und Geburt,
und wir sind rücksichtslos wie die Natur,
die über beidem dauert, trauerlos
und ohne Anteil. Leid und Freude sind
nur Farben für den Fremden, der uns schaut.
Darum bedeutet es für uns so viel,
den Schauenden zu finden, ihn, der sieht,
der uns zusammenfaßt in seinem Schauen
und einfach sagt: ich sehe das und das,
wo andere nur raten oder lügen.

 

 

 

 

 

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