Eine (Nach-)Ostergeschichte

Die Geschichte vom Hasen und vom Igel wurde bereits erzählt - da waren die Gebrüder Grimm einfach schneller.

Dennoch habe ich mich gegen Streifenhörnchen und Malteseräffchen entschieden und bleibe lieber bei den Klassikern. Auch weil Ostern war. Ostern... Hase. Osterhase, you know? Und Igel sind einfach süß.

 

***

 

Es begann alles damit, dass der Hase über seine eigenen Beine stolperte. So etwas ist durchaus möglich, wenn man sich zu sehr nach innen lehnt beim Nehmen der Kurve.

Der Hase versuchte das drohende Unheil noch abzuwenden, indem er mit den Armen ruderte, aber es war zu spät. Die Pfoten glitten unter ihm weg, und für einen schrecklichen, angstvollen Moment hob er einfach ab. Im nächsten Augenblick landete er erst auf der Schnauze und dann auf dem Bauch.

Sekundenlang blieb er liegen und überlegte, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, um seine Knochen zu sortieren und herauszufinden, ob etwas gebrochen war.

Da trippelte ein kleiner, etwas gemein aussehender Igel herbei. Gemein deshalb, weil seine Augen dunkel umrandet waren, was ihm ein verwegenes Aussehen bescherte.

Ansonsten war der Igel ein ganz leidlicher Zeitgenosse, sagte man.

Er näherte sich dem flachliegenden Hasen und hielt dicht vor ihm an. Mit leicht schiefgelegtem Kopf blickte er ihn an.

"Na bums", sagte er lakonisch und machte keine Anstalten, dem Hasen irgendwie zu helfen. Er hätte es ohnehin nicht gekonnt, schließlich war er ein Igel mit kurzen Beinchen.

Der Hase prustete leise den Staub aus den Nase und hob kläglich den Kopf.

"Passiert mir immer wieder", erklärte er, ohne Interesse beim Igel vorauszusetzen. "Zu schnell unterwegs, zuviel auf einmal gewollt, mit Karacho in den Dreck gelegt."

Der Igel schnupperte fast unmerklich, um festzustellen, ob der Hase irgendwo blutete. Nicht, dass er es irgendwie verhindern könnte, falls das Leben aus dem Unglückspilz herauströpfeln sollte, aber er wollte vorbereitet sein, falls es zu einer Sauerei kam.

"Da bist du selber schuld", behauptete er, nicht ohne Arroganz. "Du musst eben auf den Weg vor dir schauen und dich mit Bedacht fortbewegen." Er richtete sich etwas auf. Seine Stacheln glänzten in der Sonne. "So wie ich."

Der Hase hob den Kopf und stützte sich - ganz vorsichtig auf die Vorderpfoten.

"Du bist lustig", entgegnete er und fand den Igel überhaupt nicht lustig. "Vor allem hast du leicht reden. Deine Beine sind Stummel, dein Bauch streift über den Boden und du siehst überhaupt aus, als würdest du nach zwei Metern zusammenbrechen."

Die Schnauze des Igels wackelte, sein Blick wurde irgendwie spöttisch.

"Ach ja?" Er blies in den Staub und rief beim Hasen eine Niesattacke hervor.

"Das mag ja sein. Aber liege ICH hier auf dem Boden oder DU?"

Der Hase fühlte Zorn aufwallen, riss sich aber zusammen und erhob sich langsam. Alles tat ihm weh, und er spürte das besonders deutlich, als er sein Fell schüttelte, um den Dreck loszuwerden.

"Klugscheißer", stieß er hervor. "Die Zeit, in der du mich veräppelt hast, hättest du nutzen können, um mir stattdessen aufzuhelfen."

"Ich habe Stummelbeine, einen fetten Bauch und breche gleich zusammen, schon vergessen?" antwortete der Igel trocken. "Wie hätte ich dir also helfen sollen?"

"Igel!" Der Hase spuckte das Wort beinahe verächtlich hervor. "Immer so arrogant. Als könnte euch niemand etwas anhaben. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du noch nie auf die Schnauze geflogen bist, du alte Flohbürste?"

Der Igel trippelte ein paar Schritte zurück, um den Hasen vollständig in Augenschein zu nehmen.

"Doch", sagte der Igel. "Tausend Male, vermutlich. Man hat mir Stachel gezogen, die Pfoten überfahren, Katzen und Hunde auf mich gehetzt, und über einen Abhang bin ich auch schon hinuntergestürzt."

Jetzt konnte der Hase nicht verhehlen, dass er erstaunt war. Mit einer geschmeidigen Bewegung, die man ihm nach dem Sturz nicht zugetraut hätte, ließ er sich auf den Hintern plumpsen und sah den Igel interessiert an.

"Erzähl!"

"Ach was." Der Igel winkte ab (so gut das mit seinen kurzen Beinchen eben ging). "Ich hab' das schon viel zu oft getan... Erzählen, meine ich." Er zog einen Halbkreis um den Hasen, der ihm wiederum mit den Blick folgte.

"Es sind immer so großspurige Typen wie du, die mehr von meinen Pannen und Katastrophen wissen wollen. Vielleicht, um so vom eigenen Elend abzulenken und sich besser zu fühlen." Der Igel blieb stehen und zuckte - ansatzweise - mit den Schultern.

"Keine Ahnung. Auf jeden Fall bin ich es manchmal ganz schön leid. Ich bin ein ungelenker, kleiner Igel, verdammt. Mir passieren Dinge." Er verfiel wieder in Trippelschritte und kreiste den Hasen weiter ein.

"Starr mich nicht so an, als wäre ich ein Freak."

Der Hase legte die Pfoten an die Brust und wirkte zum ersten Mal ein wenig demütig.

"Das lag nicht in meiner Absicht. Und ich entschuldige mich... für die Stummelbeine... und auch den Rest."

Der Igel behandelte diese Äußerung mit Gleichmut, zog einen Bogen und wollte den Hasen zurücklassen, doch dieser hoppelte in der nächsten Sekunde neben ihm her.

"Was kann ich tun?" fragte er hastig.

"Was meinst du?" wollte der Igel wissen, und seine Schnauze wackelte wieder ein wenig. Er beschleunigte seine Trippelschritte und war sich doch darüber im Klaren, dass er gegen die Geschwindigkeit des Hasen keine Chance hatte.

"Ich will dir irgendwie helfen", sagte der Hase eifrig und wich in letzter Sekunde einem Stein aus, sonst wäre er erneut gestolpert.

"Helfen?" Der Igel blieb abrupt stehen, und nun kugelte der Hase tatsächlich durch den Staub, denn das hatte er nicht kommen sehen.

Gnädig wartete das Stacheltier, bis sein unfreiwilliger Kumpan sich wieder an seine Seite begab.

"Damit dir all das nicht mehr passiert", erklärte der Hase und klopfte sich den Staub von der Flanke.

"Das mit den Pannen und Katastrophen... und den Unfällen und so. Ich kann dich beschützen."

Er setzte sich aufrecht hin und blähte die flachen Nasenlöcher.

"Ich bin stark."

"Das mag ja sein", entgegnete der Igel geduldig und zeigte sich unbeeindruckt.

"Aber ich mache all das schon mein ganzes Leben. Leben.... Überleben.... einen Fuß vor den anderen setzen."

"Und wie machst du das?" Die Augen des Hasen glänzten rötlich in der untergehenden Sonne.

Der Igel seufzte leise, als hätte er es bei seinem Gegenüber mit einem besonders begriffsstutzigen Wesen zu tun.

"Ich kann es dir nicht sagen", lautete seine ausdruckslose Antwort. "Ich mache es einfach. Irgendwie."

Der Hase schnupperte in die Luft und setzte eine träumerische Miene auf.

"Das ist bewundernswert", sagte er.

"Nein, Hase", erwiderte der Igel. "Das ist das Leben."

Wieder seufzte er und suchte nach Worten. "Wie bei dir, Hase. Du läufst einfach los und fällst auf die Schnauze. Du rappelst dich auf, läufst weiter... fällst... stehst auf... und so weiter. Verstehst du?"

"Aber da ist doch nichts dabei", sagte der Hase. "Es sieht vermutlich auch nicht besonders grazil aus, sondern sogar eher dumm."

"Das macht nichts." Der Igel lächelte jetzt - zum ersten Mal - leicht. "Es ist egal, wie es aussieht. Die Hauptsache ist, du bleibst nicht liegen. Auch wenn dir manchmal danach ist... und dir die Kraft fehlt, es wieder zu versuchen... und wieder."

Die Augen des Igels glänzten, sein Blick bewegte sich jetzt wehmütig in die Ferne.

"Igel?"

Eine Pause.

"Ja?"

"Möchtest du auf meinem Rücken mitreiten? Ich könnte dich ein Stück weit tragen."

Der Hase hatte sein Angebot fast schüchtern vorgetragen, und er senkte enttäuscht den Kopf, als der Igel den kleinen Kopf schüttelte.

"Nein, Hase. Aber danke, Hase." Wieder lächelte er, diesmal eindeutiger. "Deine Fußstapfen sind zu groß für mich, auch wenn ich sie von deinem Rücken aus betrachten würde."

Probehalber zog der Igel wieder ein paar kleine Kreise vor seinem Gesprächspartner.

"Siehst du? Ich kann dir ja nicht einmal sagen, wohin ich möchte."

Er blieb stehen und sah zum Hasen auf.

"Nein, ich muss meinen Weg alleine gehen. Auch wenn ich noch weitere Male von Panne zu Katastrophe tripple. Ich muss das einfach tun. Weil es mein Weg ist. Verstehst du?"

Der Hase ließ die Ohren hängen.

"Ich glaube schon."

"Alles Gute, Hase. Und achte auf deine Füße." Der Igel wandte sich ab und machte sich mit seinen Stummelbeinen und dem schleifenden Bauch auf den Weg.

"Igel?"

Nach zwei Sekunden Zögern blieb der Igel stehen und drehte sich um.

"Was ist denn noch?"

Einige Meter hinter ihm stand der Hase aufrecht da und lächelte.

"Du bist wahrscheinlich das schönste Tier, das ich je in meinem Leben gesehen habe", sagte er mit weicher Stimme und meinte es so.

Der Igel starrte ihn sekundenlang an und begann dann breit zu grinsen. Er rollte sich zu einer Stachelkugel zusammen, kollerte ein wenig hin und ein wenig her, richtete sich wieder auf alle Viere auf und trippelte endgültig davon.

 

Der Hase ließ freudig seine Schnurrbarthaare zittern, stieß sich vom Boden ab und lief in die andere Richtung davon.

Als er sich dynamisch in die nächste Kurve legte, war er darauf gefasst, dass er wahrscheinlich wieder auf die Schnauze fliegen würde.

Doch dann stellte er auf einmal etwas Neuartiges, Unglaubliches fest:

 

Er hatte keine Angst mehr.

Er machte einfach.

 

 

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