Bitte berühren!

Vorige Woche.

Das Telefon in der Arbeit läutet. Mein Kollege geht ran. Ich stehe daneben.

Der Kollege redet, nickt und gibt an, etwas notieren zu wollen. Mit einer Hand hält er den Hörer und mit der anderen fischt er nach einem Notizzettel. Damit dieser beim Schreiben nicht auf der Ablagefläche herumrutscht (der Zettel, nicht der Kollege), greife ich beherzt hin, um das Papier am Rand festzuhalten.

Dabei berühre ich unabsichtlich seitlich die Hand meines Kollegen.

...

 

...

 

...

Ach so... ja, ihr wartet jetzt immer noch auf die Pointe.

Nun ja - das ist sie: Ich habe die Hand meines Kollegen berührt, und mir ist im selben Moment klar geworden, dass .... nein, ich habe nicht Gefühle für ihn entwickelt. ;-)

Sondern: Dass es sehr lange her ist, dass ich zum letzten Mal die Hand von jemandem berührt habe.

Unglaublich, aber wahr.

 

Ich bin nicht verheiratet, verlobt, verpartnert und nicht mal vergeben. Ich habe keine Kinder und betatsche selbstverständlich - in Zeiten wie diesen - nicht jede mir etwas vertrautere Person.

Berührungen wurden in der Corona-Ära und in der öffentlichen Wahrnehmung zu etwas völlig Ungewohntem und sogar zu etwas sozial Unverträglichem.

Im ganz normalen alltäglichen Leben heißt es: Abstand halten, Maske tragen, Hände waschen, Kontakte meiden.

Immer noch und vermutlich noch eine ganze Weile.

Die Auswirkungen werden wir in ihrer ganzen Ausprägung erst viel später erfahren.

Kinder wachsen damit auf, dass sie von anderen Leuten zumeist nur die obere Gesichtshälfte sehen können. Sie werden im schlechtesten Fall irgendwann nicht mehr fähig sein, die Gefühlslage und Stimmung anhand der Mimik einschätzen zu können. Sie wachsen - derzeit - in einer Welt auf, in der es nicht üblich ist, sich mal eben z.B. an der Schulter zu berühren, sich spontan zu umarmen oder auch nur die Hand eines anderen zu ergreifen (wenn dieser nicht aus dem viel beanspruchten "gemeinsamen Haushalt" stammt).

Psychische Störungen nehmen zu. Alte Menschen vereinsamen - weitgehend ohne Besuche und Zeichen von Zuneigung - in Seniorenheimen.

Wir brauchen nicht darüber zu diskutieren - es ist schlimm.

Es ist auch ganz egal, ob man für oder gegen diese oder jene Regierungsmaßnahme ist, ob man Tests, Masken und Impfungen befürwortet oder nicht. An niemandem von uns geht diese Zeit spurlos vorüber.

 

Im ersten Blogteil mit ähnlichem Thema, der vor längerer Zeit veröffentlicht wurde (nämlich hier), habe ich Berührungen als "äußerst hohes Gut" bezeichnet. Ihre Bedeutung möchte ich erneut hervorheben. Sie dürfen nicht vergessen werden. Nicht von denen, die in ihrer "Familienblase" oder "Partnerblase" leben, und auch nicht von denen, die sich kaum mehr daran erinnern, wie es ist, von jemandem berührt zu werden.

Wie eben auch ich.

 

Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber wenn ich einen Film sehe und da eine Person plötzlich einfach so jemandem um den Hals fällt oder küsst, oder wenn jemand ohne Maske einen Laden oder ein Café betritt, dann reißt es mich innerlich und ich denke für den Bruchteil einer Sekunde:

Das geht nicht.

Hallo!?

Maske?

Abstand?

 

So schnell werden diese Dinge auf eine Art normal, wie sie nun wirklich niemand will.

Dann muss man sich vorstellen, in genau dieser Zeit auch noch schwer erkrankt zu sein.

Was bedeutet: Gerade in dieser Phase, in der man besonders viel Beistand, Unterstützung und eine tröstende Berührung am dringendsten braucht, ist man mit Barrieren konfrontiert, die es noch schwieriger machen, mit allem klarzukommen.

Zusätzlich zu dem Schock, der Angst und Hilflosigkeit, die beispielsweise eine Krebserkrankung (aber auch andere Leiden) bedeutet, kommt auch noch dies hinzu:

Halte Abstand.

Bitte nicht berühren.

Es bedeutet viel weniger Besuch von Angehörigen in Krankenhäusern, dazu ständiges Maske auf, Maske ab und das noch viel sorgfältigere Einhalten von Hygienebestimmungen.

Das Leben wird antiseptisch.

 

Eben darum:

Vergessen wir doch bitte den Menschen hinter dem Babyelefanten und der "Gesichtsschürze" nicht.

Manche halten Corona für nicht schlimmer als eine harmlose Grippe, andere fürchten sich fast panisch vor Ansteckung.

Es geht nicht darum, das zu beurteilen oder zu verurteilen (und das sage ich als eine, die selbst schon in Diskussionen und Missstimmungen geraten ist, bei denen es einfach kein "Richtig" oder "Falsch" gibt).

 

Es geht darum, das Menschsein nicht auf der Strecke bleiben zu lassen.

Du magst jemanden?

Sag es.

Zeig es.

Leb es.

Man braucht keine Krankheit wie Corona oder auch Krebs, um zu erkennen, dass der richtige Moment, die richtige Gelegenheit für all diese zwischenmenschlichen Streicheleinheiten genau JETZT ist.

Du weißt nicht, was morgen ist.

Tu es jetzt.

 

Und:

Niemand sagt, dass Berührungen sich auf die "Oberfläche" - also den Körper - beschränken müssen.

Um jemandem (wie man so schön sagt) tief in Inneren zu berühren, braucht man keine Hände und keine Erlaubnis vom Bundeskanzler.

 

Man braucht nur Empathie, Feingefühl, Beherztheit und manchmal auch Mut.

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Kommentare: 1
  • #1

    Renate (Dienstag, 23 März 2021 07:41)

    Wieder ein sinnvoller und zu Herzen gehender Beitrag.
    Ich drücke dich ganz fest.
    Mama