Begegnungen, Teil 1

Würde man die Menschen, die uns in besonderen Situationen bzw. Zeiträumen unseres Lebens über den Weg laufen und ihre Eindrücke hinterlassen, zählen wollen, so würde man irgendwann aufgeben. Meist sind es einfach zuviele.

Es gibt jedoch einige wenige, an die man auch Jahre später immer noch zurückdenkt, weil die Begegnungen mit ihnen aus unterschiedlichen Gründen im Gedächtnis - und im Herzen - geblieben sind.

Von diesem Kreuzen der Wege möchte ich euch heute und nächste Woche erzählen.

 

Dies sind keine "Hommagen"... dies sind Ausschnitte aus Momenten ihrer Leben und auch meines Lebens.

 

***

 

"Gehst mit raus, eine rauchen?"

Die etwas forsch wirkende, junge Frau mit den auftätowierten Augenbrauen sieht mich auffordernd an.

Ich habe gerade erst auf der radiologischen Bettenstation und in dem Vierbettzimmer eingecheckt, weil ich meine erste Bestrahlung bekommen soll. Radka ist schon etwas länger hier, mehr weiß ich nicht.

Ich bezweifle, dass es wirklich erlaubt ist, an dieser Innenhof-Stelle zu rauchen, aber ich sage nichts und blicke die Frau mit dem Wuschelkopf etwas verstohlen an. Wie immer versuche ich einzuschätzen, aus welchen Gründen jemand stationär untergebracht ist.

Radka nimmt mir das Rätselraten ab. "Was hast'n du?" fragt sie mich, mit Akzent. Vielleicht ist sie gebürtige Tschechin oder Slowakin. Sie wartet aber meine Antwort gar nicht ab, trippelt in der kühlen Luft etwas auf der Stelle und zieht gierig an ihrer Zigarette.

"Hab' Metastasen im Kopf", sagt sie schlicht. "Aber man muss hoffen, verstehst du?"

Ich verstehe, beklommen, schwankend zwischen Gefühlen von Faszination (aufgrund ihres Verhaltens) und Unbehagen (wie jetzt reagieren?) ... und ich nicke und höre nur zu. Aber sie erzählt ohnehin nicht viel. Es ist mir ganz recht so.

In dieser einzigen Nacht, die ich in diesem Krankenzimmer verbringe, liest Radka bei angeknipstem Licht in einem Buch, in dem unheilbar kranke Menschen davon erzählen, wie sie dem Krebs die Stirn boten. ("Geheilt!" heißt das Buch*.) Sie klammert sich daran, schießt es mir durch den Kopf, und obwohl ich nicht gut schlafe wegen des Lichtscheins, würde ich doch nichts sagen. Das tut dann die Nachtschwester um 3 Uhr früh.

Einige Zeit später begegne ich Radka wieder, in einem Aufzug im selben Krankenhaus. Sie sitzt in einem Rollstuhl, ohne Haare, und ihr Gesicht ist schrecklich blass. Sie erkennt mich wieder, und diesmal fehlt ihr die energische Art. "Mir geht's leider schlechter", sagt sie, und ich komme nicht dazu nachzufragen, weil der Pfleger und sie die richtige Etage bereits erreicht haben. "Alles Gute", rufe ich ihr nach und ärgere mich über die floskelhafte Entgegnung, auch wenn sie der Verunsicherung entstammt. Und was soll man auch sonst sagen?

Wenige Wochen später sehe ich online die Todesanzeigen durch. Das ist kein komisches Hobby, aber manchmal gehe ich einem unbestimmten Gefühl nach. Tatsächlich finde ich Radka, die nicht lange nach unserer Begegnung ihren letzten Weg gegangen ist.

Bis heute ist sie mir, mit ihrer Zigarette und ihrer schnodderigen Art, im Gedächtnis geblieben.

 

***

 

Selbes Krankenhaus, andere Station. Gynäkologische Station diesmal, denn die Intensivierung meiner Antihormontherapie hat mich, endlos blutend, um 4 Uhr früh die Notaufnahme aufsuchen lassen (und dann hat man mich nicht mehr nach Hause gelassen).

Hier bin ich nun, hänge am Tropf und warte auf die Entscheidung "Kürettage ja oder nein". Ich bin ganz cool - schließlich bin ich ja schon ein OP-Profi.

Quer mir gegenüber sitzt eine etwa 30-jährige Frau mit langem honigblondem Haar aufrecht im Bett und knetet nervös ihre Finger.

"Es wird schon alles okay sein", sage ich ihr, aufmunternd, und habe noch immer nicht so richtig gelernt, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu sagen - wenn es das "Richtige" überhaupt gibt. Dennoch lächelt W. schüchtern. "Danke."

Sie bedankt sich ständig - bei mir, bei den Schwestern, bei den Ärzten - und das macht sie nicht auf nervige, sondern auf sympathische Weise. Ich mag sie, und ich wünsche ihr inständig, dass das herausoperierte Ding, das sie an ihrem Eierstock hatte, nicht das ist, was es sein könnte.

"Ich habe ein Kind", erzählt sie, obwohl sie das vor einigen Stunden schon getan hat. Es stört mich nicht. "Ich möchte nicht sterben."

Die Ärzte waren sich nicht sicher - der Ultraschall nicht eindeutig. Letztlich wurde, gemeinsam mit ihr, entschieden: das Gewächs muss heraus. Das war vor zwei Tagen. Nun wird es gerade untersucht. Ich bin fast genauso nervös wie W.

Weniger als eine Stunde später kommt die diensthabende Oberärztin herein. Es ist nicht Zeit für die Visite, und so geht sie schnurstracks auf das Bett von W. zu und setzt sich auf den Matratzenrand.

Sie nimmt W.'s Hände. Deren Augen füllen sich augenblicklich mit Tränen.

"Nein", sagt sie.

Die Ärztin schüttelt den Kopf. "Nein", wiederholt sie. "Nicht bösartig. Ich wollte es Ihnen selbst sagen."

W. fängt vor Erleichterung zu weinen an und drückt die Hände der Medizinerin ganz fest.

"Das sind die schönsten Momente", meint die Ärztin und sieht ihre Patientin auf einfühlsame Weise an. "Auch deswegen habe ich diesen Beruf ergriffen."

Keine sachlich-nüchternen Worte, die man vielen Ärzten in einem Moment wie diesem sonst zuschreiben würde, und sie sind genau richtig platziert. All die Schwere, all die Angst, löst sich in Nichts auf.

Es gibt immer etwas Gutes. Manchmal muss man selber Patientin werden, um so etwas mitzuerleben.

 

(Fortsetzung nächste Woche.)

 

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 * geschrieben von meinem Bekannten Thomas Hartl, der nicht nur als Schriftsteller und Büchercoach für Furore sorgt, sondern mir zu meinem ersten Buchbeitrag verholfen hat - nachzulesen in "Lebe! Diagnose Krebs als Chance zur Veränderung".

 

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