Schwester

"Es ist ein Mädchen", sagt Papa stolz und blickt mich erwartungsvoll an.

Wir sind auf dem Weg nach Hause vom Kindergarten, ich gehe an seiner Hand.

Ich bin noch zu jung, um zu taktieren, aber ich versuche trotzdem zu lächeln, um meine Enttäuschung zu verbergen.

Ich nicke, wie als Zustimmung. Es ist ein etwas zerknirschtes Lächeln.

Ich habe mir einen Bruder gewünscht, mit dem ich herumtoben, Fußball spielen und mit Matchbox-Autos spielen kann.

Eine andere Eventualität kam in meiner kindlichen Vorstellung schlicht nicht vor.

Papa weiß das vermutlich, und er geht mit Leichtigkeit über meinen zweifelhaften Gesichtsausdruck hinweg.

"Du kannst sie dir gleich ansehen, deine Schwester."

 

Meine Schwester.

 

Weißt du noch, Schwester?

 

Nein, daran kannst du dich auf keinen Fall erinnern, du warst ja noch ein Baby.

Du lagst in deinem Bettchen, und ich hatte alle Hände voll mit dir zu tun.

Vor zehn Minuten waren die Eltern zu den Nachbarn gegangen, auf ein Gläschen zusammensitzen. Nicht weit weg, nur drei Meter den Flur entlang, ich bräuchte nur zu klingeln. Du hast geschlafen, warst ein kleiner Engel.

Jetzt dagegen dröhnte dein Schreien gegen meine überforderten Ohren. Ich streichelte dich und redete irgendeinen Kauderwelsch auf dich ein, aber dein Gebrüll steigerte sich zu einem schrillen Bitzeln.

Ich hasste dich.

Nein, ich hasste dich nicht, aber ich hatte die Vorstellung, dass du das mit Absicht machtest. Ich war zumindest wütend - und holte die Eltern. Mit tränennassen Augen lagst du dann selig und ruhig in Mamas Arm, und ich wollte immer noch und umso dringlicher einen Bruder.

 

Den bald darauffolgenden "Anschlag" mit dem Stein neben dem Traisen-Fluss hättest du wohl persönlich nehmen können, wenn er nicht unabsichtlich geschehen wäre.

Wir hatten auf einem Familienausflug Halt gemacht, und ich spielte am Flussufer mit den Steinen, die ich mit ganzer Kraft auf die Wasseroberfläche schleuderte. Wahrscheinlich, um sie springen zu lassen, wie es mir Opa gezeigt hatte. Einmal holte ich aus und ließ den Stein aus Versehen zu früh los. In hohem Bogen flog er nach hinten statt nach vorn - und traf das Dach deines Kinderwagens. Es gab ein wenig Aufregung, aber es war nicht dramatisch... und außerdem ja nichts passiert.

Praktisch seit damals ist das ein Running Gag zwischen uns, bei dem du mir spaßhalber immer wieder unter die Nase reibst, dass ich dich damals um die Ecke bringen wollte. ;-)

 

Dabei haben wir doch auch ganz friedlich zusammen spielen können.

Du hattest eine Mega-Barbie-Sammlung und "My Little Pony"-Figuren, und da das nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung war, kostete dich meine Beteiligung manchmal einiges. ;-D Du hattest eben eine wirtschaftlich denkende große Schwester.

Aber oft genug verbrachten wir auch "so" Stunden um Stunden beim Playmobil- und Legospielen. Mit Murmeln schossen wir hin und wieder die Playmobil-Männchen "tot", und hach - damals in den Achtzigern hinderten uns keine Helikopter-Eltern daran, moralisch nicht einwandfreie Spielvarianten zu entdecken.

 

Ich sehe dich noch vor mir im rosa-blauen Schianzug. Ich hatten den selben, und wir spielten draußen im Schnee, wälzten uns herum und spielten auf dramatische Weise Fernsehsendungen nach oder bauten glitzernde weiße Burgen.

Von einer Glasfront weiter oben sahen uns Autobahnrestaurant-Gäste, die beim Essen saßen, dabei zu. Wir wohnten damals ja dort, weil Papa Geschäftsführer war. Die Leute lächelten und winkten oft, und wir lieferten ihnen gern (aber manchmal auch ungern) ein Schauspiel.

Das war der Zeitpunkt, an dem ich das eine oder andere Mal stolz dachte: "Schaut her... die süße Kleine da, mit den roten Wangen... das ist meine Schwester."

 

Später saßen wir vor dem Fernseher und sahen uns "Tom & Jerry" an. Oder "Mrs. Brisby und das Geheimnis von Nimh"... oder "Das letzte Einhorn", was dein Lieblingsfilm war.

Heute noch, wenn ich den Soundtrack der Band America höre, kann ich dabei eigentlich nur an dich denken. Das wird vermutlich noch im Altersheim so sein (falls ich bis dahin noch nicht taub bin).

 

Wir stritten auch. Und wie wir stritten!

Schimpfwörter flogen gegenseitig um unsere Köpfe, dabei auch selbst kreiierte, die ich hier nicht wiederholen werde. ;-)

Oft genug war ich genervt von dir, empfand dich als lästig und aufsässig. Die sechs Jahre Altersunterschied machten sich halt doch immer wieder auch mal bemerkbar, und außerdem warst du immer mutiger und durchsetzungsfreudiger als ich.

Als du noch ganz klein warst, bist du meinem Spielfreund und mir mal in ein Zimmer nachgelaufen - beziehungsweise wolltest du es. Mein Freund und ich warfen die Tür hinter uns zu... aber da waren leider deine Finger dazwischen. Gebrüll von dir - und Geschimpfe für uns.

Nein, ich war keine Vorzeige-Schwester.

 

Umso weniger verstand ich es, als du mir, vor Freude weinend, auf dem Bahnhof entgegengelaufen kamst, als ich vom Italien-Urlaub mit Oma und Opa zurückkehrte. Du hattest mich vermisst und schlangst deine Arme um mich. Ich war überrascht und verlegen... und freute mich doch insgeheim.

 

Später, als wir älter wurden, spielte der Altersunterschied keine so große Rolle mehr, und trotzdem waren wir uns nicht besonders nah.

Jede machte ihr eigenes Ding, und die Unterschiede in unserer Biographie trennten uns mehr, als dass sie uns vereinten.

Du: gute Schülerin, durftest mehr, mit Jungs unterwegs, kamst ohne größere "Reibereien" durch die Kindheit

Ich: schlechte Schülerin, strenger erzogen, am gleichen Geschlecht interessiert, selbsternanntes "schwarzes Schaf der Familie"

 

Nachdem ich ausgezogen und in ein anderes Bundesland übersiedelt war, kam es erstmals (und auch altersbedingt) zu "Gesprächen" - in Form von Briefen, die wir uns schrieben (auf postalischem Weg... ja, das gab's noch).

Du erzähltest mir von deinen Jungs-Problemen, und ich versuchte dir mit schwesterlichem Rat (mehr schlecht als recht) beizustehen. Zumindest einige Briefe lang.

Einmal kamst du mich mit dem Zug besuchen, und ich hatte es im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen... hatte ich mir doch am Vortag als standesgemäße, abenteuerlustige Anfangzwanzigerin ordentlich einen hinter die Binde gekippt. Du musstest dann leider ein wenig am Bahnhof auf mich warten und durftest dir im Anschluss von deiner verkaterten, wortkargen Schwester die Stadt zeigen lassen ("Das ist das Passage-Kaufhaus, dort kauf' ich CDs, da hinten ist mein Stammlokal.")

 

Erst die Sorge um ein Familienmitglied ließ uns zusammenwachsen. Wir fingen an, uns gegenseitige Unterstützung zu geben und entdeckten mit der Zeit unsere Verbundenheit.

 

"Was denkst du?" (Meistens dasselbe.)

"Wie geht es dir dabei?" (Genauso wie dir.)

"Ich hab' da eine unpopuläre Meinung dazu" (... und kann sie nur dir erzählen, weil ich weiß, dass du mich verstehst.)

 

.... und dann waren wir im Austausch, füreinander da, entdeckten uns nicht nur als Schwestern, sondern auch als Freundinnen.

Noch heute stehen diese Fragen und Gedankenansätze bei uns an vorderster Stelle.

 

Als ich dich anrief, um dir von dem Tumor in meiner Brust zu erzählen, den man eben entdeckt hatte, wusste ich, dass ich dich schwer belastete mit Sorgen um mich, und ich wälzte mit meiner Bitte, dass DU es unseren Eltern sagen mögest (weil ich nicht konnte), auch noch DAS auf dich ab.

Dieses Gespräch mit dir - ich weiß noch, wo ich saß und wie ich saß und wie es mir dabei ging - war mir so schwer gefallen und hatte mir doch eine so große Last von den Schultern genommen.

Meiner Schwester kann ich alles sagen.

 

Wochen später, nach den ersten Chemo-Gaben, sahen wir uns zum ersten Mal wieder. Ich stand vor deiner Tür, du öffnetest sie und fielst mir - augenblicklich in Tränen ausbrechend - um den Hals.

Wie damals am Bahnsteig, als du als kleines Mädchen weinend meine Hüfte umklammert hast, und daran musste ich denken, auch wenn der Unterschied zu damals nicht größer hätte sein können, in jeglicher Hinsicht.

Meine kleine, lästige Schwester war ja längst groß geworden, verheiratet und Mutter von zwei tollen Kindern. Und jetzt umarmte sie mich, und ließ damit ihren Gefühlen, ihrer Sorge und allem, was sie seit dem besagten Telefonat beschäftigte, freien Lauf.

 

Man kann nicht abstreiten, dass wir uns in vielerlei Hinsicht ähnlich sind.

Nein, man kann es nicht nur "nicht abstreiten"... ich bin froh darum. Es zeigt mir, dass wir verbunden sind, in vielen Bereichen fast identische Gedankengänge und Emotionen haben... dass wir in bestimmten Situationen exakt gleich reagieren und Lösungen oft in gleicher Weise anstreben.

Es stimmt: Du bist das Blut von meinem Blut, als meine Schwester.

 

Ich habe überlegt, ob ich dir diesen Blog-Beitrag widmen kann, den ALLE lesen können.

Dein Foto ist zu sehen, und man erfährt diesmal nicht nur etwas über mein Leben, sondern auch über deines (wenn auch nicht in wesentlichen Details).

Doch ich habe mich dazu entschlossen, es auf jeden Fall zu tun, weil eben auch DU dazu beigetragen hast, mich zu dem zu machen, was ich bin.

Durch deine Loyalität, die "Connection" zwischen uns, die unzähligen Telefongespräche und Sprachnachrichten zu allen möglichen wichtigen und unwichtigen Themen, durch unsere gemeinsame Biografie und das große Geschenk, dass wir uns trotz räumlicher Entfernung und unterschiedlicher Lebensverläufe so nah sind.

Weil du immer für mich da warst und bist und umgekehrt.

Weil Leichtigkeit und Schwere unsere gemeinsamen Jahre und auch die danach durchzogen, und wir lernten, aus allem - zusammen - das Beste zu machen.

 

Dieser Beitrag erscheint heute, weil alles, was ich eben erzählte, woran ich mich erinnerte und was ich hervorhob, eine Herzenssache für mich ist. Weil eben DU eine "Herzenssache" für mich bist, und ich stolz und glücklich bin, dich zu haben.

Seit 1978.

 

Mit zögerlichen Schritten trete ich über die Zimmerschwelle.

Mama liegt im Bett, hat den Arm hinter dem Kopf verschränkt und spielt mit einer Haarsträhne (wie sie es heute noch tut). Sie lächelt mich an und lässt ihren Blick auffordernd zu einer Stelle neben mir wandern.

Da steht ein Gitterbett, und da gehe ich hin und blicke erwartungsvoll hinein.

Da liegt es nun... das Mädchen, das mir Papa angekündigt hat.

Sie heißt Kathrin. Das weiß ich schon, weil Mama seit Ewigkeiten von diesem Namen schwärmt.

Sie ist winzig klein, trägt einen orangefarbenen Strampelanzug, und ihr Kopf ist knallrot von der Anstrengung bei der Geburt.

Ich strecke meinen Arm über das Bettgeländer und streiche ehrfurchtsvoll und doch gleichzeitig mit einem leicht mulmigen Gefühl dem kleinen Baby über den Kopf. Die Haare sind dunkel, dünn und erinnern mich an Federn. Ich spüre die warme Haut unter meinen Fingerkuppen, und das kleine Wesen vor mir verwandelt sich in diesem Augenblick in etwas "Lebendiges"... etwas Reales... etwas, mit dem ich von nun an mein Leben teilen werde, und zwar für immer.

Kein Bruder, und es macht mir nicht mehr so viel aus.

Das hier ist meine Schwester.

 

Ich denke, ich kann mich daran gewöhnen.

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Monika (Samstag, 23 Januar 2021 21:56)

    So berührend. �