Alleine in der Nacht

Zugegeben: Ich habe einen Sinn für Dramatik.

Dramatischerweise fällt mir auf, dass einige meiner Lieblingssongs mit dem selben Thema zu tun haben.

 

No na. Das gibt ja auch einiges her.

"Lonely... I'm Mr. Lonely, I have nobody for my own...", croont Bobby Vinton, während der herzgebrochene Benny aus "Eis am Stiel" tränenüberströmt die Party verlässt.

 

Aber es muss ja nicht gleich die Hardcore-Variante sein. Wer redet denn gleich von Einsamkeit? Alleinsein tut's doch auch.

 

"I hear the ticking of the clock, I'm lying here, the room's pitch dark", leitet eine der besten weiblichen Rockstimmen überhaupt - nämlich die von Ann Wilson (Heart) - ihren berühmtesten Song ein, und spätestens wenn sie beim Refrain losröhrt: "...and now it chills me to the bone, how do I get you alone", bleiben vielleicht so einige Augen trocken ... meine ganz sicher nicht.

 

Und da ist auch noch der schleppende Beat von Portishead's "Roads"...

... R.E.M.'s Michael Stipe, der mit melancholischer Stimme beschwört: "Everybody Hurts"...

... Elvis und Konsorten, die allesamt den "Blue Moon" besingen ...

 

Aber es muss ja auch nicht immer die Schluchz-Liga sein. "And here I go again on my own..." verkündet Whitesnake's David Coverdale und schüttelt das lockige Haupt. Als er dann mit rauer Stimme beschließt: "...And I've made up my mind, I ain't wasting no more time", verspürt man fast schon so etwas wie Aufbruchsstimmung.

 

Doch man muss sich nicht zwangsläufig den Anglizismen hingeben - auch die deutsche Sprache hat viel zu bieten.

Da gab es doch mal dieses Lied von Polarkreis 18 - kennt das noch jemand? "Allein, allein"... es klingt fast ein bisschen höhnisch in all seinem Singsang.

"Allein," singen auch Die Ärzte, und zusätzlich auch noch "Alleine in der Nacht".

Als wenn's nicht am Tag schon reichen würde, gell?

Am treffendsten bringen es aber wieder mal meine Freunde von den Fantastischen Vier rüber, wiederum als Strophe in meinem Ich-kann's-auswendig-Song "Sie ist weg":

 

"Du fühlst dich nicht nur allein, Mann, du bist es,

drum lass das Gejammer sein, denn so ist es,

nun mal auf dieser Welt, auch wenn's dir nicht gefällt,

schaust du deinen eigenen Film und bist dein eigener Held..."

 

In meinem eigenen Film bin auch ich meine eigene Heldin, so wie jede/r von uns.

Die einen sind in Gesellschaft, die anderen sind alleine.

Ich bin - schon seit einiger Zeit, vorwiegend, unfreiwillig und doch irgendwie selbst gewählt - alleine.

Ich bin es wegen Corona.

Ich bin es, weil ich zu 98% nur noch auf meine Ausbildung konzentriert bin.

Ich bin es, weil irgendwie Menschen auf der Strecke geblieben sind, während ich über die Jahre meinen eigenen Weg als eigene Heldin in meinem eigenen Film gegangen bin.

Nicht alle Menschen, aber einige.

Von manchen weiß ich nicht, warum.

Von anderen weiß ich, warum.

Vielleicht liegt es auch am Blog, der mich zu etwas "Monströsem" werden lässt ... zu einem Bild der Stärke zwar, in dem man den glimmenden Funken deutlich sehen kann, aber auch zu einem Bild, das vielleicht abschreckt, das eigene Ängste verkörpert. Um das man lieber einen Bogen macht.

Mir war das von Anfang an klar, als ich den Blog startete. Ich selbst war es, die den Scheinwerferkegel lenkte, und ich lenkte ihn nicht von mir weg.

 

"Meiden Sie Kontakte", sagt der Bundeskanzler zum wiederholten Mal, und ich möchte ihm ins Gesicht springen.

Und doch weiß ich gleichzeitig, dass mein Alleinsein sehr oft selbstgewählt ist.

Weil ich trotz aller selbst empfundener Unzulänglichkeiten und Unzufriedenheiten doch eines ganz sicher weiß:

Mir selbst bin ich so nah wie niemandem sonst. Auf mich kann ich mich verlassen.

Ich konnte es, als das Leben mir einen tiefen Graben schlug, und ich kann es immer noch, seien die Anlässe nichtig oder wichtig.

 

Ich war allein, nachdem ich von meiner Krankheit erfahren hatte.

Das heißt: Ich war nicht allein. Ich war ans Bett gefesselt, ständig - ungewollt - von Menschen umgeben, auf der Krankenhausstation.

Aber in der Nacht war ich es tatsächlich: ALLEIN.

I'm lying here, the room's pitch dark.

Alleine mit all den Schatten und Dämonen, die an mich herankrochen und mich überwältigen wollten.

Alleine mit der Angst.

Alleine mit all der Überforderung.

Und auch wenn ich soviel Hilfe bekam - von meinen Angehörigen, von den Ärzten ... im Grunde blieb ich allein, in mir drin, und das ist ein Alleinsein, das man weder begreifen noch beschreiben kann.

Doch es ist nicht immer ein schlechtes Alleinsein - manchmal ist es ein Alleinsein, aus dem Neues, Gutes entstehen kann... Kraft, Zuversicht, neuer Lebensmut.

 

Diese Erfahrungen helfen mir in meinem jetzigen Alleinsein, denn manchmal droht es mich - auch ohne Krankheit - ganz nach unten zu ziehen.

Wie derzeit.

Es ist eine schwierige Zeit. Corona everywhere... Terror... das allgemeine Spiel mit Angst und Wut, und es erfordert Mut, Kraft und Willensstärke, in einem allgemein schwierigen Jahr voller neuer Beginne, aber auch schmerzvoller Abschiede, sich nicht in die Tiefe ziehen zu lassen.

Kämpfe, sagen die einen - sage auch ich.

Spüre die Leichtigkeit, sagen die anderen - und ich auch.

Lasst mich doch alle zufrieden ... ja, das sage ich manchmal auch.

 

Damals wie heute gilt für einen Zustand, dessen Ursprung nicht derselbe ist, das Gefühl dahinter aber sehr wohl:

Akzeptiere es.

Akzeptiere, dass es jetzt so ist, denn es wird vorbei gehen.

Irgendwann wirst du innehalten, zurückblicken, durchatmen und denken:

Ja, so war es... und jetzt ist es wieder anders.

 

........Es war gestern abend, am fünften Tag des zweiten Lockdowns.

(Hey, findet ihr nicht auch, dass das ein guter Einleitungssatz für einen dystopischen Science Fiction-Roman wäre? Es fehlt nur noch ein Logbuch-Captain-Spruch.)

Also - es war schon nach 21 Uhr, und es war kalt, neblig und trüb draußen.

Gerade deshalb ging ich noch zu einem Spaziergang hinaus, der mich fast eine Stunde lang durch mein und das angrenzende Stadtviertel führte.

Die Luft war klamm, feucht und salzig. Nein, das mit dem "salzig" stimmt nicht, aber es fühlte sich fast so an.

Ich traf in dieser einen Stunde, bis auf eine Ausnahme, keine einzige Menschenseele. Es war tatsächlich fast dystopisch, als wäre ich allein auf dieser Welt, aber es machte mir weder Angst, noch ließ es mich einsam fühlen.

Alleine ja - aber nicht einsam.

Ich spürte den Herzschlag in meiner Brust, als ich langsam durch die Straßen ging ... und trotzdem war mir nicht schwermütig um selbiges, zumindest für den Moment.

Da war ich wieder - ich, mit mir allein, mit der Gewissheit:

So ist es jetzt. Aber ich kann. Und ich werde.

 

Dies hier ist mein eigener Film.

Ich werde vielleicht nicht den Oscar für das beste Drehbuch gewinnen.

Den für die beste Hauptrolle jedoch ganz bestimmt.

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Kommentare: 2
  • #1

    Jac (Sonntag, 15 November 2020 17:21)

    "Ich möchte ein Eisbär sein - im kalten Polar.
    Dann müsste ich nicht mehr schrein - alles wär so klar.."

    Ein sehr starker und kraftspendender Blog-Eintrag, Marlies! :)

    Lieben Gruß aus Wien!

  • #2

    Renate (Samstag, 12 Dezember 2020 09:59)

    Dieser Eintrag trifft mich mitten ins Herz.
    Ich hab dich lieb, deine Mama