Kontrollfreak über Bord

Es ist etwa Mitternacht, und ich liege in einem fremden Bett (weil ich ein paar Tage auf Fortbildung bin).

Das Fenster in diesem Eckzimmer des restaurierten Vierkanthofs steht offen, und herein kommt kühle, würzige Luft. Draußen rauscht der Wind durch die Blätterkronen der Bäume, ein stetiges Nieseln sorgt für angenehme, beruhigende Geräusche.

Obwohl ich nicht schlafen kann, ist gerade alles ziemlich gut.

 

Versuche, auf der Seite zu schlafen (egal, auf welcher) haben nicht gefruchtet, also liege ich nun auf dem Rücken, habe die Hände von mir gestreckt und starre im Dunkeln an die Decke.

Ich fühle mich geborgen.

 

Warum eigentlich?

 

Ich kenne diese "Pose", und ich assoziiere sie mit:

Ich füge mich.

Ich kämpfe nicht.

Ich akzeptiere.

Ich gebe mein Leben in andere Hände.

Ich gebe die Kontrolle ab.

 

Das will etwas heißen, denn vermutlich habe ich schon bei meiner Geburt im Mutterleib die Wehen kontrolliert.

Gestatten - Kontrollfreak.

 

Ich mag sie nicht, die sich überschlagenden Ereignisse, die unvorhergesehenen Haken, die das Leben schlägt. Ich möchte, mit dem Rücken zur Wand, die Fäden in der Hand halten und alles im Blick haben. Stets die Übersicht behalten, mich vorbereiten, gedankliche und tatsächliche Recherchen betreiben und das Boot sicher durch das Gewässer gleiten lassen - dabei die Häfen ansteuern, wenn ICH das möchte.

So weit, so die Theorie.

 

Wenn Schlimmes passiert,wird es schwierig. Das Beste zu tun, und dieses dann auch noch perfekt, das gelingt nicht immer, wenn etwas außer Kontrolle gerät.

Geht es um einen anderen Menschen, und man versucht, die Dinge irgendwie zusammenzuhalten, passiert es auch schon mal, dass man auf sich selbst vergisst. Verstrickt in einem anderen Leben, ohne festes eigenes Fundament, nur darauf bedacht, die drohenden Katastrophen zu verhindern.

Ich kenne es, und es ist anstrengend. Es dauert, Schritt für Schritt da herauszukommen und zu erkennen: Nichts passiert ... auch nicht, wenn ich loslasse.

 

Dazu die Erkenntnis: der lohnende, befreiende, alles verändernde Schritt IST das Loslassen.

 

Als der Super-GAU passiert und ich krank werde, stellen mich vor allem die ersten Tage - bis zum Feststehen des Behandlungs-Fahrplanes - auf eine sehr harte Probe. Ich fühle mich wie das Reh im Scheinwerferlicht.

 

Im Moment des Akzeptierens - im Geburtsmoment des Funkens - da lasse ich die Kontrolle wieder los. Schneller diesmal, abrupter... ich falle, aber nicht in den Abgrund.

Meine Kraft kommt zurück.

 

Im Operationssaal, als ich - wie im Zimmer des Vierkanthofs während meiner Fortbildung - auf dem Rücken liege, die Arme ausgestreckt. Nur, dass sie diesmal auf Armstützen liegen und das Narkosemittel sich gleich einen Weg durch die Kanüle bahnen wird. Über mir das riesige, gleißende Auge der Operationsleuchte.

Obwohl das Herz in meiner Brust wie verrückt rast, bin ich gleichzeitig ruhig und vertrauensvoll.

Wieder gebe ich Kontrolle ab.

Ich muss mir nicht selbst den Tumor aus dem Körper schneiden - ich darf alle Verantwortung darüber in kompetente Hände legen.

 

Wisst ihr, was für ein erleichterndes, mitunter euphorisches Gefühl das sein kann?

 

Es ist nicht mein Kampf.

Es IST mein Kampf... aber ich muss ihn nicht alleine führen.

Es gibt immer noch andere Hände, die für mich arbeiten.

Es gibt Köpfe, die für mich denken und Entscheidungen (am besten gemeinsam mit mir) treffen.

Es gibt die guten Seelen, die mir verständnisvoll die Hand auf die Schulter legen und mir sagen, dass bestimmt alles gut wird (... und so muss ich mich nicht einmal selbst beruhigen).

 

Im Moment, als die erste Chemo durch den Körper zu fließen beginnt. Die Entscheidung: Kämpfe ich vor Angst dagegen an oder akzeptiere ich, lasse los - und die Zytostatika damit wirken?

Auch hier gebe ich die Kontrolle sowas von ab! Und es ist sowas von GUT!

 

Abschließend zwei große ABER:

 

Beim Ultraschall pflege ich wohl weiterhin ungewollt mein Trauma, und auch wenn ich letztlich wie ein Käfer auf dem Rücken liege und es über mich ergehen lasse, so gelingt zu keiner Sekunde auch nur ein kleiner Moment des Abgebens von Kontrolle.

 

Und das zweite Aber betrifft die Ängste, die mich immer noch - mal mehr, mal weniger - einzuholen pflegen - die typischen "Danach"-Ängste.

Auch hier ist es mir noch nicht gelungen, mich dem Leben vertrauensvoll zuzuwenden und die Dinge - wie sie auch sein mögen - geschehen zu lassen. Hier meldet sich dann immer noch der Kontrollfreak.

 

Dabei müsste ich es ja wissen: Es gibt nichts Befreienderes, als die Angst hinter mir zu lassen, und ich bewundere jeden Menschen, der das kann.

Wie oft habe ich - vor allem früher - die Appelle gehört: "Lass doch los!", und es hat mich eher wütend gemacht. (Was weißt DU schon?)

 

Letztlich aber weiß ich, dass ich alles im Gepäck habe, was ich brauche.

Dass ich alles weiß und alles kann, was nötig ist, um mir selbst zu helfen - in jeder Situation, ob kontrollierbar oder nicht.

Es braucht, wie bei allem im Leben, nur Vertrauen ... vor allem in mich selbst.

 

Und so lasse ich das Boot, jeden Tag aufs Neue, wieder ins Wasser gleiten, steuere mal hier hin, mal da hin, saufe manchmal ab ;-)

... aber nehme doch immer noch jede Welle, auch im stärksten Sturm.

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Rösi (Donnerstag, 05 November 2020 23:13)

    Wieder ganz super liebe Marlies ! Freu mich auf den nächsten post von dir.
    Alles Gute .rösi. ���