Ich muss

Ich muss etwas tun.

 

Ich muss nach vorne schauen.

Ich muss aufhören mit dem Selbstmitleid.

Mit den Selbstzweifeln.

Ich muss müssen.

 

Man kann nicht genug müssen.

Es geht immer noch weiter.

Ich muss immer alles im Blick haben.

Ich muss Verständnis haben.

Ich muss das Beste tun.

Das Beste.

Für mich, für die andern.

Ich muss müssen.

 

Ich muss aufstehen und unter die Dusche.

Morgen muss das alles wieder funktionieren.

Ich muss funktionieren.

Ich muss Energie haben.

Ich muss dankbar sein.

Was sollen denn da andere sagen?

Also auf... weiter, weiter, weiter.

Ich muss die Peitsche schwingen.

Ich muss müssen.

 

Was nicht passt, wird passend gemacht.

Ich lächle, fische nach Komplimenten, wachse über mich hinaus.

Meine virtuelle Schulter tut weh vom virtuellen Klopfen.

Ich muss stolz sein.

Ich muss wachsen, immer mehr und über mich hinaus.

Ich will dann auch müssen.

 

Manchmal vergesse ich vor lauter Selbstausdruck auch das Spüren.

All die perfekten Worte können das Fühlen, das Verstehen, nicht ersetzen.

Und dann will ich nicht mehr müssen - dann will ich wollen.

Doch dafür hab' ich dann zuwenig Mut.

 

Mich all dem zu stellen.

Den Deckel abzumachen, das Müssen in den hintersten Winkel zu verbannen.

Mich nicht mehr nach allen Seiten abzusichern.

Der Angst ins Gesicht zu sehen.

Der Wut ins Gesicht zu sehen.

Der Trauer ins Gesicht zu sehen.

Mir selbst.

 

Ich muss.

Bis zu dem Zeitpunkt,

an dem die Kraft wieder da ist.

Meine Schulter wieder erstarkt ist,

mein Lächeln wieder echt,

mein Rückgrat an der richtigen Stelle,

der Panzer geplatzt.

 

Ich muss.

Bis die Selbstachtung wieder aus der Ecke hervorgeholt wird.

Das Herz wieder gleichmäßiger schlägt.

Ich nicht mehr auf die Abgründe zutaumle.

Ich mich nicht mehr abhängig mache

vom Gemochtwerden, vom Geliebtwerden.

Bis es wieder leichter wird.

 

Bis ich eines Tages an den Punkt gelange,

an dem ich weiß:


Ich muss gar nichts.

Ich muss auch nicht wollen.

Nicht sollen.

Nicht dürfen.

 

Dann wird alles leicht und weit,

dann werde ich wissen:

 

Egal, was ist oder nicht.

Egal, was jemand sagt, tut oder nicht.

 

Ich bin mir endlich selbst genug.

 

 

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Monika (Dienstag, 13 Oktober 2020 18:53)

    Liebe Marlies!
    Diese Erkenntnis wünsche ich allen deinen LeserInnen.
    Frei nach Virginia Satir: "ich bin ich und ich bin o.k"
    Danke, Monika