Ein Brief

Meine liebe Freundin,

 

es sind bald zwei Monate, dass du gegangen bist, und meine Akzeptanz dieser Tatsache steht immer noch auf einem anderen Blatt.

Ich muss es verlegt haben, dieses Blatt. Wahrscheinlich will ich es auch gar nicht finden, will es nicht lesen, will nicht Schwarz auf Weiß sehen, dass du nicht mehr da bist.

Aber das funktioniert nicht, denn da steht es, hier im Regal - das Trauerkärtchen, mit deinem Namen, deinem Sterbedatum und deinem Foto.

 

Wie glücklich du ausgesehen hast, als dieses Bild am Hochzeitstag deines Sohnes entstanden ist. Du strahltest von innen heraus, schienst das Glück so sehr eingefangen zu haben, dass nichts, nichts, aber auch gar nichts daran rütteln konnte. Alles war perfekt. Egal, was du in all den Jahren zuvor schon durchgemacht hattest... all die dunklen Wolken, die sich immer wieder verdichteten und dein Leben überschatteten - du hast sie verscheucht. Mit deinem Lächeln, mit deiner Einstellung, mit deiner Energie. An diesem Tag, an (fast) allen Tagen.

 

Was auch immer dir widerfuhr - nach den ersten Schreckmomenten hast du dir ein Herz gefasst, deine Kräfte gebündelt und einfach beschlossen, dass es weitergeht. Dass es immer und immer weitergeht. Bis es das eines Tages nicht mehr tat.

Ich weiß nicht, wie das für dich gewesen sein muss. Wann war der Punkt da, an dem es kippte? Als du begriffen hast, dass es nicht mehr geht? War da Resignation? War da ein stilles Einverständnis? Warst du verzweifelt?

Natürlich warst du verzweifelt - du musst es gewesen sein. Wer wäre das nicht? Oder projiziere ich hier mich auf dich?

 

Ich konnte dich all das nicht mehr fragen. Am Ende ging es zu schnell.

Als ich dich das vorletzte Mal sah, war es in einer Runde unter FreundInnen, und ich habe dich gefragt, ob du gesehen hast, dass ich meinen Blog unter anderem dir gewidmet habe. Du hast dich gefreut, und wie immer hattest du nur positive, wertschätzende Worte für mich.

 

Es wäre gelogen zu sagen, dass wir die allerbesten Freundinnen waren - mit dieser Behauptung schmücke ich mich auch post mortem nicht. Dazu kreuzten sich unsere Wege, unsere Interessen, dann doch zuwenig. Aber du warst immer da. Von all den Menschen, die schon behauptet haben, immer an meiner Seite zu stehen (und es dann doch nicht taten), warst du zu 100 Prozent für mich da.

Wenn es darum ging, meine Sorgen zu zerstreuen - du hast mir zugehört, immer etwas Positives gefunden, mich gestärkt.

Als es darum ging, dass ich meine Lebenssituation verändern musste, warst du da mit Tipps, Ratschlägen und der tatkräftigsten Unterstützung, die du im Rahmen deiner Möglichkeiten leisten konntest.

Du hast das Positive an mir immer hervorgekehrt - mein Schreiben, meinen Gesang... für dich war ich immer besonders, und du wurdest nicht müde, es zu betonen. Nie hat das jemand so getan, in gleicher Weise, so wie du.

 

Egal, wie es manchmal in dir ausgesehen haben muss - du hast dir dein weites, großes Herz gefasst, Barbara, und es zu mir getragen... und immer zu deiner Familie, die du über alles geliebt hast, deinem Lebensgefährten und zu all den Menschen, die dir viel bedeuteten.

 

"Du bist eine große Inspiration für mich", hast du mir einmal gesagt, und mir eine nähere Erklärung vorenthalten. Ich weiß bis heute nicht, und werde leider auch nicht mehr erfahren, was deine Gedanken dazu waren. Doch es ist eigentlich völlig egal... du warst so. Du hast diese Dinge einfach gesagt, wie sie für dich waren, und deine Augen haben gelacht und du hast mich umarmt.

 

Kurz vor deinem Tod durfte ich dich, gemeinsam mit deiner guten Freundin R., noch einmal besuchen.

Diese letzte Begegnung, dieses letzte Zusammensein mit dir, hat mich tief erschüttert und geprägt, und gleichzeitig war es das friedlichste Erlebnis, das ich in meinem Leben je hatte.

In diesen Stunden an deinem Bett schrumpfte die Welt zu einem unwichtigen Nichts zusammen und fokussierte und zentrierte sich in diesem Raum. Wie sehr sich deine Familie Mühe gegeben hatte, dir das Sterben in einer so liebevollen Umgebung zu ermöglichen! Der Begriff wird oft überstrapaziert und missinterpretiert, aber hier passte er perfekt: Es war alles aus Liebe, von Anfang an und bis zum Ende.

 

Auch wenn dein Körper noch da war, lebte, atmete, warm war - dein Bewusstsein war bereits dabei, vorauszugehen, und ja, ich hatte anfangs Schwierigkeiten damit, dich anzusehen, dich anzufassen.

Weil einfach nicht möglich sein konnte, was war. Es ist mir bis heute unbegreiflich.

Wir haben dir Anekdoten erzählt, wir haben gelacht, wir haben geweint, wir haben unsere Befangenheit erst überspielt, dann abgelegt, und ich habe für dich gesungen und bin felsenfest überzeugt, du hast es gehört.

 

Nein, ich war nicht die starke, resiliente Persönlichkeit, die da an deinem Sterbebett saß und deine Hand hielt. Mal weinte ich, mal kam ich mir vor wie eine Parodie meiner selbst (Was für Worte findet man gegenüber einem sterbenden Menschen?)

Ich wusste aber, wärst du mit vollem Bewusstsein da, du hättest mir über die Schulter gestreichelt und gesagt, dass alles gut war, wie es war. Dass ICH gut war, wie ich war, wie ich bin, und dass ich keine Selbstzweifel und keine Angst zu haben brauche. Egal, worum es geht. Dass DU da, wo du jetzt warst, geborgen warst, keine Schmerzen und keine Angst empfandest. Dass auch für DICH alles gut war.

 

Und auch heute noch, Wochen später, trete ich manchmal in eine innere Zwiesprache mit dir, meine liebe, besondere Barbara, und dann frage ich mich: Was würdest du tun? Was würdest du sagen?

Fast immer bekomme ich eine Antwort, und ich höre dabei - tief in mir drin - deine Stimme, mit deinem Tonfall, deiner Sprachmelodie und deiner Wortwahl, und ich weiß, du hast wieder einmal recht.

Du hast wieder einmal genau die richtigen Worte und immer, immer stärken sie mich.

 

Danke für alles ... das Davor und das Danach.

 

Deine

Marlies

 

 

 

Here comes the sun, and I say... it's alright.

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Daniel H. (Dienstag, 06 Oktober 2020 21:04)

    Danke Marlies für diesen wunderbaren Beitrag! Sie wird uns von ihrer Regenbogenwolke jeden Tag beobachten und noch öfter die Schulter streicheln und uns in den Ohren liegen.

  • #2

    Monika (Dienstag, 06 Oktober 2020 22:10)

    Liebe Marlies!
    Du weißt, wie sehr ich es schätze, wie du deine Gedanken und Gefühle in Worte kleiden kannst. Wie du damit Mut machst, bewegst, berührst und so wie heute wundervolle Erinnerungen an einen ganz besonderen Menschen mit uns teilst.
    Ich habe beim Lesen Barbaras Lachen gesehen und gehört. DANKE