Free Mirli

Es gibt Situationen, die sind so absurd und quälend, dass man sich hinterher fragt: Wie habe ich das eigentlich geschafft?

Gut, eine Krebsdiagnose gesagt zu bekommen, ist schon kein Highlight... bei zwei Diagnosen glaubst du schon, im falschen Film zu sein...

 

.... aber dann nicht mal weglaufen zu können, das ist wahre Brutalität.

 

 

Wie kommt's?

 

Wir reisen zurück zu meinem ersten stationären Klinikaufenthalt im September 2012:

Ich liege wie ein geflickter Fahrradschlauch im Krankenhausbett. Man hat gerade an der Wade, wo das Melanom war, weitere Haut weggeschnitten und den "Defekt" mit einem Stück Oberschenkelhaut bedeckt. Die tiefe Wunde dort muss nun plus neuer Pelle ordentlich heilen. Außerdem gibt's da noch drei überraschend schmerzhafte, frisch genähte Schnitte an der rechten Leiste von der Lymphknotenentnahme.

Wollt ihr Fotos sehen?

Wollt ihr nicht. Glaubt mir.

 

Die Crux an der Geschichte ist, dass ich wegen der Wundheilung an der Wade etwa 10 Tage in der Waagrechten liegen bleiben muss - sprich: das Bein darf unter keinen Umständen runterhängen bzw. großartig bewegt werden. Das bedeutet nun, dass ich tagelang in eine Bettpfanne pieseln muss und für "das andere" äußerst umständlich mit dem sperrigen Sitzwagen in Richtung Toilette manövriert werde.

Mein Bewegungsradius schrumpft dadurch merklich, und von alleine komme ich genau nirgendwohin. Meine Freundin unternimmt mit mir ein paar "Ausfahrten" in dem Sitzwagen, auf dessen Beinvorrichtung ich den rechten Schenkel hochlagere und einen dicken Polster druntergeschoben bekomme.

 

Okay, mögt ihr sagen - das ist sicher lästig und kein Spaß, aber das ist nun mal so - warum heulst du hier herum?

Nun, ganz einfach:

Stellt euch vor, ihr bekommt neben der einen Oh-mein-Gott-Diagnose innerhalb kurzer Zeit völlig überraschend noch eine zweite Das-darf-nicht-wahr-sein-Krebsdiagnose.

Was machen viele Menschen, wenn ihre persönliche Welt plötzlich in Trümmern liegt?

Richtig - nicht jede/r mischt sich damit unter Leute. Viele verkriechen sich erst mal... versuchen, alleine oder nur mit wenigen Vertrauten das Unfassbare zu verkraften. Und man denkt nach, trauert um die eigene Gesundheit, tankt Kraft... manchmal kommt man halt erst einmal nur alleine wieder richtig zu Sinnen.

 

Und was mache ich?

Ich bin nur dann wirklich alleine, wenn ich in der Krankenhaustoilette auf dem Porzellanthron sitze.

Kein Zurückziehen, keine einsamen Abenddämmerungen in einer stillen Krankenhausterrassen-Ecke bei Nieselregen. Keine langen Nachdenk-Spaziergänge, weder allein noch mit Partnerin oder Familie.

No - privacy.

 

Von all den Dingen in der Anfangszeit war dies eins der schlimmsten.

Nicht wegkönnen, wenn man das möchte. Keine Privatsphäre, kein Luftholen, keine Ruhe.

Es ist der normale Lauf der Dinge: Zimmernachbarinnen (mal mehr, mal weniger anstrengend), ständig kommt eine Schwester herein, manchmal ein ganzes Rudel Ärzte, und selbst bei den Sitzwagen-Ausflügen ist einfach zuviel Trubel.

Meine Freundin schiebt mich mal wohlwollend auf die Caféteria-Terrasse und ich, einer Panikattacke nahe, will nach wenigen Minuten einfach nur weg, weil ich das Geplapper und Geschirrgeklimper nicht aushalte.

 

In den ersten Tagen möchte - nein, manchmal muss ich - telefonische Auskunft über meinen Gesundheitszustand geben.

Dazu bringt mich meine Freundin an wenig bis kaum bevölkerte Krankenhausabschnitte, und dort sitze ich dann, trage die braungestreifte Kapuzenjacke, die mir meine Mama in einem lange vergangenen früheren Leben geschenkt hat, und heule ins Telefon, während ich meinem Chef berichte, dass ich wohl noch länger nicht zur Arbeit erscheinen werde. Trotzdem gehen Leute vorbei, und ich will einfach nur eins: mich aus dem Staub machen. Auf meinen eigenen zwei Beinen.

 

Aber das dauert noch. Kurz nach der OP stempelt man mir die Brust. Zumindest klingt das Klackern so bei der Stanzbiopsie. Da man gleichzeitig noch schallen muss, darf das Ganze - hurra! - wieder in meinem abgedunkelten Lieblings-Sonografie-Raum stattfinden. Meine Gedanken sind grimmig schadenfroh, weil sich Schwestern und Ärzte so abmühen müssen, um mein breites Klinikbett in den kleinen Raum hineinzubekommen. Manchmal muss man gedanklich ein kleines Scheusal sein...

 

Ich erfange mich langsam wieder. Den Funken gibt's auch schon. Ich werde allerdings auch zunehmend genervter, weil mir meine Einsamkeit so fehlt. Patzige Antworten in Richtung der Nachtschwester... ups, sorry, passiert schon mal.

Es kommt eine Art Trotz. Ich darf mich NICHT alleine vom Bett in den Sitzwagen bewegen, um damit zur Toilette zu fahren, da ich hier ja sowieso eine Begleitperson bis zur Tür benötige.

Was macht ich als renitente Patientin? Ich stemme mich - nicht nur einmal - unter Aufbietung aller Kräfte alleine in den Sitzwagen und "fahre" damit (ein Bein stramm hochhaltend, weil der Stützpolster meterweit wegliegt, mit dem anderen Bein auf dem Boden seitlich "antauchend") zur Toilette. Dort knalle ich dann schweißüberströmt und grinsend die Tür hinter mir zu und fühle mich FREI. Ich habe etwas Verbotenes getan, und das hat sich - oh! - so GUT angefühlt. Ich habe mir gerade ein Stück Autonomie, die mir in den letzten Tagen so sehr gefehlt hat, zurückerarbeitet.

Revolution, Baby!

 

Dann, nach etwa einer Woche, darf ich üben, das Bein zu bewegen. Meine Schenkelwunde sieht aus, als hätte sich ein schlecht aufgelegter Rottweiler daran gütlich getan, aber ich darf ein paar Mal jeweils 30 Sekunden lang meine rechte untere Extremität herabbaumeln lassen (aber gaaaaanz laaaangsam), während die Schwester mit der Stoppuhr dasitzt und überprüft, ob sich die transplantierte Haut irgendwie pervers verfärbt.

Tut sie aber nicht.

 

Jeden Tag darf ich ein bisschen mehr. Es dauert nicht lang, und ich darf ein paar "verkrüppelte" Schritte um die untere Bettseite herum gehen. Wie ein Baby, das gerade laufen lernt, fühle ich mich, aber auch das fühlt sich GUT an. Wieder ein Stück Selbstständigkeit.

 

Der beste Moment ist, als ich mich soweit fit fühle, dass ich - mit Erlaubnis - einen kurzen Rundgang im Krankenhaus unternehmen darf.

Ich hätte nicht gedacht, dass es so aufregend, himmlisch und interessant sein kann, einen viertelstündigen Ausflug zum anderen Ende der Bettenstation, einen Ausflug zur Nachbarstation und ein paar Schritte auf die Terrasse hinaus zu tun.

FREIHEIT!

Nach dieser Viertelstunde bin ich allerdings aufgrund der brachliegenden Kondition ziemlich geschafft.

 

Den Schlusspunkt setzt kurz darauf der Ausflug in den Keller zum PET-CT - da trippel ich dann schon wieder fast ganz normal durch die Gegend.

 

Und was ist mit dem Bedürfnis, sich zurückzuziehen und einsam ins Kissen zu heulen?

Tja, so akut und drängend das auch vorher war - der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und so gelingt es auch mir, bis zum Ende des stationären Aufenthaltes genügend innere Kraft und Stabilität zu erlangen (nicht zuletzt durch meine "Free Mirli"-Aktionen), dass ich mich wieder halbwegs erfangen habe. Außerdem darf ich endlich nach Hause, und dort ist mir in den kommenden Monaten jede Menge Ruhe und (tagsüber) Alleinsein gewiss.

 

Eins ist außerdem auch sicher: Die betriebsame und doch ruhige "Geschäftigkeit" im Krankenhaus wird mir in gewissen Momenten in der Folgezeit auch fehlen, da sie mir Sicherheit gibt.

Damit schließt sich dann der Kreis zu meinen ebenfalls in diesem Blog beschriebenen "Comebacks" ins Spital. :-)

 

So, und wer ist nun "Mirli" und warum muss sie nochmal befreit werden?

Frage 1: Fragt meinen Vater.

Frage 2: Braucht sie nicht ... das hat sie ja selbst getan.

 

Und wie sie das hat...

 

 

 

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