Lobulus auriculae

Lasst euch erzählen:

Die halbwüchsige Marlies erwartete einst voller Unfreude das Ende der Sommerferien.

Nicht, weil die Schule wieder startete (was mich allerdings auch nicht vor Begeisterung springen ließ), sondern weil meine Mutter wie jedes Jahr klar ihre Linie durchzog:

 

Komm, Kind, wir müssen dir ordentliches Schulgewand kaufen.

 

Und so jährte sich immer wieder das Unvermeidliche:

Das etwas einseitig eifrige Mutter-Tochter-Duo cruiste von Textilientempel zu Textilientempel, um Bundfaltenjeans aller Coleur, pastellfarbene Poloshirts und regenfeste Stehkragenblousons anzuprobieren und dann in ausreichender Menge einzukaufen, um in der Schule nicht wie die letzte Vogelscheuche für kollektive Augenschmerzen zu sorgen.

"Das schaut gut aus, ja. Zupf das noch ein bisschen aus der Hose, du schaust aus wie ein Schlurf."

"Mpf."

"Passen tut's auch. Und wie gefällt's dir?"

"Pfff."

 

Ihr mögt denken: Na na... schon ein bisschen übergriffig, die Frau Mama.

Aber ihr habt unrecht.

Hätte sich nicht wenigstens meine Mutter um meine "Schale" gekümmert - ICH hätte es vermutlich nicht getan.

Ich hätte mit 14 Jahren die Flanellhemden, Stone Washed Jeans und die neongelben Hosenträger getragen, bis sie mir vom Körper gefault wären.

Auch als ich schon längst einen freien Willen hätte durchsetzen können, verhielt ich mich phlegmatisch und ließ die Shopping-Touren über mich ergehen.

Letztlich schaute ja dann doch immer etwas Gutes dabei heraus, und ich stolzierte am ersten Schultag betont lässig in das Klassenzimmer. Kein Wunder, der schneeweiße Sweater mit "Champion"-Aufdruck war ja auch echt schick.

Doch doch... mir gefiel das... man musste mir nur eben alles "vorkauen".

 

Und heute?

Ein kleines bisschen ist meine Mutter im Geiste wohl mit mir dabei, wenn ich mich mal notgedrungen - quasi als letzter Ausweg - aufmache, um mir ein, oh Gott, Kleidungsstück zu kaufen.

Man kann ja auch nicht immer nur Motörhead-Shirts per Mailorder bestellen, und was will man außerdem machen, wenn die gestrige Pastrami-Pizza nun endgültig dafür gesorgt hat, dass beim Sitzen das Einatmen tunlichst vermieden werden muss? (Heimlich geöffnete Hosenknöpfe unterm Shirt/Hemd haben aber auch etwas wirklich Verrucht-Verwegenes...)

Die Unterwäsche zieht auch schon Fäden, und außerdem brauche ich berufsbedingt etwas, das ich sonst nicht anziehen würde: So ein weißes Sport-BH-Oberteil, keine Ahnung wie man das nennt (ihr seht... das ist nicht gerade mein Nerd-Thema Nr. 1). Brauche ich nämlich, weil es nicht gerade ein Hingucker wäre, wenn meine Brustnarben durch weißen Hemdstoff durchscheinen.

 

Also allen Mut zusammengenommen und rein in den Modetempel mit den zwei Buchstaben (nicht der, an den ihr jetzt vermutlich als erstes denkt). Warum diese Wahl? Weil der Tussi-Faktor gering ist, die XXS-Fetzen nicht in der Überzahl sind und der Bauer halt nur isst, was er kennt.

 

Ja, so bin ich. Zumindest, was Klamotten betrifft.

 

Im Erdgeschoss schweift mein Blick nur halbherzig über die eher schlampig zusammengelegten Eigenmarken-Jeans.

Nein - heute kein Jeans-Quickie.

Der bei mir so aussieht: Rein ins Geschäft, mit Todesverachtung maximal 3 Jeans anprobieren, dabei mich in schwitzigem Zustand bei unbarmherziger Beleuchtung in der Umkleidekabine zu fett fühlen (und auch sein), und wenn die Auserwählten nicht spontan passen, wieder raus aus dem Shop. Eine Sache von maximal einer Viertelstunde.

 

So... die Damenmoden-Abteilung überspringe ich, wie gewohnt, ohnehin.

 

Warum?

Hallo?? Lest ihr überhaupt meinen Blog? Tz tz...

 

Aber auch heute habe ich keine Lust, mich durch die Shirt- und Jacken-Ständer (hihi) der Herrenabteilung zu wühlen. Weil: Solange ich nicht 4 Tage hintereinander dasselbe anziehen muss, hab' ich einfach noch genug Kleidung. So einfach ist das.

 

Nun also zur L̶i̶n̶g̶e̶r̶i̶e̶ Unterwäsche-Abteilung des Hauses.

Ich krieg' einen Zorn.

Ich krieg' ganz schnell einen Zorn.

Da sind weiße Oberteile (na, wenigstens finde ich die überhaupt), aber der Schnitt ist ausnahmslos gerafft und gesteppt - dort, wo die Frau nun mal normalerweise ihre Tutti platziert. Würde ich also so ein Teil anziehen, selbst in Ultrasmall, dann würde das aussehen, als trage ich Puffärmel auf dem Brustkorb.

Fail.

Deep fail.

 

In mir tobt ein Kampf. Ich könnte noch weiter schauen. Genauer schauen. In einem anderen Geschäft schauen.

Aber ich sehe mich schon den imaginären Hut draufhauen.

 

Egal, dann halt wieder raus hier. Ich wollte eh noch in den Elektrogroßmarkt, CDs durchstöbern.

Auf dem Rolltreppen-Weg nach unten sticht mir, zurück in der Herrenabteilung, ein Schmuckregal ins Auge. Hey, ich wollte ja eh mal wieder einen Ring - irgend so etwas Cooles mit Stahloptik. (Mir schon klar, dass es sich um Modeschmuck handelt.) Da ist dann dieser eine, mit blauglänzendem Innenteil und mattgebürsteter "Titanoberfläche". Schnell probiert - schnell enttäuscht: So groß, dass ich ihn auf 2 Daumen gleichzeitig tragen könnte. Klar... ist ja auch gemacht für Männerhände. Nicht einmal andere Größen passen, und so verhält es sich auch mit den anderen, nicht weniger gut aussehenden Ringen.

Frustriert ziehe ich ab. Nicht mal hier winkt mir das Glück.

 

Im Erdgeschoss dann der Damenschmuck.

Bling bling. Zarte "Diamanten"-Optik, Glitter, rosa Steinchen und überhaupt Ringe in der Stärke meiner Wimpern, so in etwa.

Tussi-Material.

 

Was mach' ich hier überhaupt?

 

Nein, das ist nicht mein Modetempel. Gibt es überhaupt den Modetempel für mich?

Werde ich beim Nachdenken über dieses für irgendwelche anderen Leute sicher wichtige Thema in eine Sinnkrise geraten? Eher nicht.

Ich bin zuwenig Fashion Victim, zuwenig bitchy, außerdem mopslos, chronisch mit meinem Gewicht unzufrieden, ein klein wenig ungeduldig, und überhaupt muss ich jetzt nachschauen, ob die Elektro-Abteilung im Kaufhaus um die Ecke irgendeine relevante Genesis-CD im mageren Regal stehen hat oder wieder nur eine grindige Best of.

 

Mit einem gewissen Missmut (statt der orgiastischen Shoppingfreude) im Gesicht trete ich aus dem Geschäft hinaus ins Regenwetter.

Ich ziehe die Kapuze meiner Wetterjacke zurecht (müsste mal wieder eine neue kaufen, hab' ich die nicht auch schon zehn Jahre?).

Dann kommt's, wie es kommen muss:

Das elastische Gummiband mit der Plastikhülse macht sich plötzlich selbstständig und schnalzt gegen mein Ohrläppchen (lat. Lobulus auriculae).

 

Und so findet wieder ein äußerst erfolgreicher Shopping-Tag sein schmerzhaftes Ende.

 

Fashion for dying inside.

Bling bliiiing!

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Helmuth, du kennst`mich (stolz!) (Donnerstag, 25 Juni 2020 09:09)

    Marlies, wie schon so oft ..........................so genau beobachtet!
    Das Beste für Dich, Papa !