Herzensheimat

Wenn Gespräche zufällig das Thema Schwangerschaften und Geburten streifen (nicht meine oberste Priorität, aber was soll's), dann versuche ich manchmal besonders witzig zu sein, indem ich erzähle:

"Meine Mutter hat mit mir 36 Stunden in den Wehen gelegen, aber die Mühe hat sich gelohnt."

 

Der Wahnsinn! Knüller-Pointe!

Doch seien wir mal ehrlich: Welche Familien hangeln sich problemlos und perfekt harmonisch durch sämtliche Kinder- und Teenager-Jahre?

Als ich mit 20 Jahren von zu Hause auszog, ging zwar kein kollektives Aufatmen durch die Reihen (jedenfalls nicht, dass ich wüsste), aber es lässt sich nicht von der Hand weisen:

 

Meine Eltern hatten mit mir 20 ... ähm... spannende erste Jahre zu genießen bewältigen.

Bis ich endlich flügge wurde (und danach), ist unter anderem das hier alles "passiert":

 

😲 Ich bekam von Ärzten eine "zerebrale Störung" attestiert, weil ich mit 8 Monaten noch nicht sitzen konnte.

😲 Ich bin als Kleinkind beinahe in einer Regentonne ertrunken.

😲 Ich steckte den Finger in die Steckdose. Einfach, weil ich es konnte.

😲 Ich turnte bei Regenwetter auf einem Brückengeländer herum.

😲 Ich erkrankte - immer noch als Kleinkind - mysteriös und wurde von Arzt zu Arzt und Klinik zu Klinik gereicht, bis ein Dorfkinderarzt eine schwere Form von Scharlach diagnostizierte.

😲 Ich saß am Kindersitz des mütterlichen Fahrrades und klemmte mir während der Fahrt den Fuß ziemlich gefährlich in den Speichen ein.

😲 Ich verursachte am allerersten Schultag eine Vermisstensuche, weil ich einfach zu einem Schulfreund mit nach Hause ging.

😲 Ich crashte beim Krampuslauf den Hinterkopf einer Schulfreundin und musste nach einem mittleren Blutbad an der Lippe genäht werden.

😲 Ein Freund wemste mir aus Versehen den Minigolfschläger ins Gesicht und spaltete mir - na klar - erneut die Lippe.

😲 Ich knallte von der Turnsaal-Sprossenwandsprosse auf den Rücken und erstickte fast.

😲 Ich klaute meinem Vater Geld aus der Brieftasche (und wurde erwischt).

😲 Ich spielte mit meiner kleinen Schwester mit Barbiepuppen und ließ mich dafür von ihr bezahlen.

😲 Ich rauchte auf dem Schulklo.

😲 Ich schwänzte die Schule, fälschte dilettantisch die Unterschrift meiner Mutter und bekam eine Betragensnote.

😲 Ich blieb sitzen.

😲 Ich kiffte.

😲 Ich stand auf das eigene Geschlecht. [Nicht dass das jetzt "schlimm" wäre! Aber es passte halt gut zu meiner Nonkonformität. So nach dem Motto: Auch das noch. ;-)]

😲 Ich nahm einen dubiosen Kredit auf und musste mich von meinem Vater rauspauken lassen.

😲 Ich schmiss 2x ein Studium und diverse Ausbildungen.

 

😲 Ah ja, und Krebs bekam ich auch noch.

 

...

Okay, jetzt ist das Lachen ein wenig in der Kehle erstickt. War aber nicht beabsichtigt. ;-)

 

Was ich eigentlich sagen will:

 

Wenn man lebensbedrohlich erkrankt, ist es natürlich nicht nur für einen selbst schwer.

Von der Melanom-Diagnose, die ja zuerst kam, zu erzählen, das habe ich gerade noch so geschafft.

Als der Tumor in der Brust wenige Tage später entdeckt wurde, schickte ich - ich glaube, ich erwähnte es - meine Schwester vor, weil ich selbst nicht die Kraft hatte, es meinen Eltern zu sagen.

 

An Krebs zu erkranken, das trifft einen mit voller Wucht. Nichts ist mehr wie zuvor. Viele Ängste, Probleme und Sorgen treten auf. So weit, so bekannt.

Vieles davon kann gemildert und aufgefangen werden, wenn man Menschen um sich hat, die einen unterstützen und für einen da sind.

Ich hatte Glück. Ich hatte meine damalige Lebensgefährtin an meiner Seite.

 

Und natürlich hatte ich meine Familie.

Meine Eltern, meine Schwester, meinen Schwager und die Kinder.

Sie alle mussten genauso mit dieser beängstigenden Situation klarkommen, und jede/r bewältigte diese Aufgabe auf unterschiedliche Weise.

 

Ich habe damals den Fokus auf mich und meine Genesung gelegt.

So gern ich es auch normalerweise gewollt hätte: Ich konnte mich nicht auch noch darum kümmern, dass es meinem Umfeld gut ging. Sicher war mir wichtig, dass sie mit allem irgendwie klarkamen, aber ich musste mich auf mich konzentrieren und meinen geliebten Menschen zutrauen, dass sie für sich selbst und ihre eigene Resilienz Verantwortung übernehmen. Ich ließ sie sein ... genau wie sie mich meinen Kampf auf meine Weise führen ließen.

 

Karten auf den Tisch:

Es gab Zeiten, da hatte ich nicht Angst davor, dass ich bald tot sein könnte.

Stattdessen hatte ich Angst, dass meine Familie es nicht ertragen könnte, wenn ich sterben sollte.

Ich hatte Angst, sie zurückzulassen und ihnen die Trauer um mich zuzumuten.

(Okay, wie war das eben noch mit dem Überlassen der Verantwortung?

So einfach war das halt dann doch nicht.)

 

Als der Funken entstand (ihr wisst schon welcher, ansonsten einfach im Blogmenü nachlesen), beschloss ich, nicht zu sterben.

Für meine Familie.

Aber auch für mich.

 

Meine Eltern in meiner niederösterreichischen Herzensheimat zu besuchen, war und ist immer noch Heimkommen. Ich war und bin immer willkommen, und ich weiß, dass dieses Glück nicht jeder Mensch hat.

Ich bin immer noch da, und auch meine Familie ist es.

Aber der feste Stand im Leben ist unsicher und bröckelig geworden.

Es ist nun mal so: Es liegt am Alter. Es macht vor niemandem Halt. Schon gar nicht innerhalb einer Familie.

Dann gibt es Momente der Bewusstwerdung: Es gibt keine Unverwundbarkeit, und deine Eltern werden eines Tages nicht mehr da sein.

 

In den "besten Familien" kommt es vor (wie man so schön sagt), dass mal ein Wort das andere ergibt, auf einmal die Fetzen fliegen und man dann auseinandergeht.

Dass es Konflikte gibt, die sich über Jahre hinziehen. Schuldgefühle. Wegen diesem, wegen jenem. Dinge, die man lange mit sich herumschleppt. Aber auch wieder loslassen kann.

 

Ich will mich mit Altlasten im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr be-lasten.

Ich war vielleicht mal eine kiffende Schulschwänzerin, die nicht mal einen Bleistiftspitzer angreifen konnte, ohne sich den Zeigerfinger abzuraspeln.

Auch meine Eltern, meine Schwester ... hatten und haben "Fehler", haben diese und jene Dinge manches Mal nicht richtig gemacht. Wie auch ich.

 

Das kümmert mich nicht mehr.

 

Was ich weiß, ist:

Seit mich meine Mutter unter Schmerzen nach besagten 36 Stunden geboren hat und mich mein Vater das erste Mal im Arm gehalten hat, hat es keine einzige Sekunde in meinem Leben gegeben, in der ich nicht die bedingungslose Liebe und Unterstützung meiner Eltern erfahren habe.

Egal, wie schwer sie es manchmal mit mir hatten.

Und egal, wie schwer es ich manchmal mit ihnen hatte.

 

Jeder Mensch muss irgendwann sterben. Keine Therapie, keine Coachings, keine Gespräche auf dieser Welt konnten mir bisher die Angst davor komplett austreiben.

Jedoch ist da das stille Einverständnis und das JA zum Leben... zur Veränderung, da wo es möglich ist... und dazu, klare Worte zu finden und zu sagen:

 

Ich liebe euch von ganzem Herzen und danke euch für alles.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Susanne (Sonntag, 14 Juni 2020 10:24)

    Wow, bin immer wieder sprachlos

  • #2

    Renate (Samstag, 12 Dezember 2020 10:44)

    Danke für deine Offenheit und deine Liebe.
    Mama