Music is the healer

Rückblende 2004.

Die Welt ist zappenduster. Gerade hat mich meine Angebetete unsanft aus ihrem Leben entfernt, und ausgerechnet an Silvester stehe ich nun mit blutendem Herzen da... der Todesstoß wurde mir nämlich erst vor wenigen Stunden versetzt. Anstatt das neue Jahr feuchtfröhlich bei Feuerwerk in Salzburg zu begrüßen, finde ich mich jetzt mutterseelenalleine in Linz wieder. Während die ganze Stadt auf Mitternacht hinfeiert, verkrieche ich mich bei meiner langjährigen Freundin U., die mich spontan nach Alt-Urfahr einlädt, um dort mit ihr und ein paar Leuten den Jahreswechsel zu verbringen. Auf nichts hätte ich weniger Lust gehabt (Feiern? Oh bitte...), aber die Alternative wäre gewesen: Mit mehreren Tränen im Knopfloch alleine zu Hause hocken und mich selbst bemitleiden.

Nun - bemitleidet habe ich mich trotzdem, als ich nach ein paar Bieren an der Schulter von U. ganz ganz viele davon vergoss (Tränen, nicht Biere). U. strich mir über die Haare und meinte nur lächelnd:

"Nimm's nicht so schwer. Vergiss nicht: Music is the healer."

Während man normalerweise so jemandem für eine Floskel wie diese eine runterhauen sollte, pflanzte mir das einen Samen ins Herz, und ich wusste: Wahr gesprochen!

Seitdem hat mich dieser Satz nie wieder verlassen, und mir war damals noch gar nicht bewusst, auf wieviele Lebensbereiche man ihn ausweiten kann. Obwohl Musik für mich schon mein ganzes bisheriges Leben etwas enorm Wichtiges gewesen war, wurde sie nun essentiell - und dieser Satz verankerte sich für immer in meinem Bewusstsein. (Liebe U., ich schätze, das weißt du gar nicht.)

 

Nun sind wir auch schon mitten im Thema. Wo soll ich da bloß anfangen? Ich versuche es gar nicht erst, denn dafür müsste ich wohl eine eigene Blogseite erschaffen.

Ich könnte erzählen, dass mir mein Vater seine Superduper-Luxus-Kopfhörer (die eine entfernte Ähnlichkeit mit zwei Kokusnuss-Hälften hatten, nur ohne "Behaarung") aufsetzte, kaum dass ich überhaupt irgendwas bewusst wahrnehmen konnte. Es gibt ein (leider verschollenes) Foto von mir, wie ich mit Zopffrisur und weit aufgerissenen Augen, die Arme - wie erstarrt - angehoben, dasaß und lauschte. Vielleicht habe ich E.L.O. gehört. Vielleicht aber auch Status Quo. Oder Creedence.

"Born on the bayou, born on the baaaaayou..."

 

Nein, lassen wir das. Ihr wollte ja kein Buch lesen.

Beschränken wir uns auf die nächste Rückblende. Also:

 

20. Oktober 2012.

Ich sitze im Krankenhausbett und bin bereit. Meine linke Hand hält den bestens vorbereiteten, bis zum Anschlag vollen iPod, die Finger der rechten Hand kneten nervös die Kopfhörer-Kabel.

Gleich ist es soweit. Nochmal nachprüfen. Den Sitz der Ohrstöpsel korrigiert, den IPod angemacht, Lied geprüft. Steht auf 0:00. Passt. Es darf nichts schief gehen - in Gedanken habe ich diesen Moment schon einige Male durchgespielt.

Da - endlich kommt die junge, auffallend hübsche (... nicht, dass mir das entginge) Stationsärztin herein, mit dem Infusionsbeutel in der Hand.

"Na, dann gemma's mal an, ja?"

Sie lächelt, und ich lächle zurück. Sie entfernt mein "Aperitif" - die Kochsalzlösung - vom Infusionsständer und hängt einen prallen, fetten Beutel auf.

Willkommen, Taxotere, in meinem Leben. Schön, dich kennenzulernen. Ich habe es zwar nicht darauf angelegt, deine Bekanntschaft zu machen, aber wenn du nun schon mal da bist: Könntest du bitte deinen Job machen? Ich helf' auch mit. Dankeschön.

Die Handgriffe der Ärztin sind routiniert und bedacht zugleich... alles geschieht ohne Hektik.

Ich beobachte das Umstecken und lege nun langsam die Fingerkuppe auf den Play-Knopf.

"So."

Sie nickt mir freundlich zu und verlässt das Zimmer.

Ich schaue hoch zum harmlos wirkenden Beutel und zur Tropfkammer an der Mündung.

Tropft es? Es tropft. Klare Flüssigkeit, die sich in (bewusst) gemächlichem Tempo auf den Weg in meinen Körper macht.

Es ist soweit. Meine erste Chemo läuft.

Ich drücke Play.

Und mache diesen besonderen Moment zu einem historischen Moment.

Das gewählte Lied beginnt mit Soundeffekten von Münzen, die in einen Fernsprecher fallen, mit dem Tippen von Tasten und kurzem Wolfsgeheul. Dann schießen mir die schnittigen Synthieklänge von Kavinsky's "Nightcall" genauso warm ins Blut wie Freundin Taxotere.

Auf meinem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus, während mein Kopf im Rhythmus nickt. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Gänsehaut... wie immer bei diesem Lied.

Das ist er nun, mein Special Moment. Anstatt zitternd und innerlich auf Abwehr gehend mich vor den Nebenwirkungen des "Gifts" zu fürchten, habe ich mich bewusst dafür entschieden, diese erste Chemo-"Mahlzeit" zu einem Fest zu machen.

Hier liegt keine klägliche Tumor-Tante, der der Arsch auf Grundeis geht vor dem, was kommt.

Hier sitzt in diesem Augenblick Wonder Woman, die vor lauter Zuversicht und Kraft den Garderobenschrank aus seinen Verankerungen reißen könnte.

Da bei mir aber eh die Geschlechtsidentitäten gern mal verschwimmen, tut es aber auch ein visualisierter muskelbepackter He-Man. Das wäre doch mal was - den Infusionsständer hochzureißen, auf einen Funkensprühregen zu warten und volltönend zu verkünden:

 

"Bei der Macht von Taxotere... ICH HABE DIE KRAFT!"

 

Nun... der Moment verstreicht (besser so), und so tropft die Medizin halt weiter und Kavinsky wird von anderen, sorgsam ausgesuchten Liedern abgelöst.

"Into The Black" von den Chromatics, zum Beispiel (ein Cover von Neil Young's "My My, Hey Hey") und dann natürlich auch "Strong Will Continue" (Nas & Damian Marley), an dessen Textfragmenten ich mich zuvor schon wochenlang festhielt:

 

"All I do is stay focused..."

          "I just keep moving forward,
           I got places to go, man, let's go"

"Only the strong will continue,

do you have it in you?"

                    "But I clench my fists, ready to go against whoever,
                     tie my Timbs and rise in the end"

 

Und wenn wir schon dabei sind, martialische Allmachtsfantasien auszuleben - in dieselbe Kerbe schlage ich auch bald mit Bruchstücken aus "Krieger" von den Fantastischen Vier, in dem "der Krieger erwacht, er wurde über Nacht zum Krieger gemacht. Macht sich bereit..." und wichtig ist nur, dass "der Zauber wirkt".

Das mag nicht die Methode für jedermann und jederfrau sein, doch He-She-Wonder-Marlies liebt es, sich dem kraftspendenden Musikrausch hinzugeben und so der nüchtern-nackten Tatsache einer Chemo-Verabreichung oder der (späteren) Totalität der Mastektomie entgegenzuwirken.

"Wir führen einen Fight!"

Right!

 

Musik aktiviert bei mir den Sympathikus, die Seele, das Herz. Rührt mich an, streichelt mich (wenn es sonst keiner tut), packt mich, schüttelt mich, lässt mich weinen, hoffen, flößt mir Kraft ein.

Musik IST heilend. Sie tat es davor, sie tat es bei diesen Special Moments und sie tat und tut es danach.

Also... U., ich schulde dir ein Bier. Mindestens.

 

 

Bildquelle: giphy.com

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