Risse und Kanten

Nicht noch eine Meinung zu Corona.

Bitte, bitte, bitte nicht.

 

Keine Sorge.

Wir werden derzeit überschwemmt von Kommentaren, Essays, Bemerkungen, Kritiken, Beiträgen, Standpunkten. Dem werde ich mich nicht anschließen.

Zumindest nicht in der Weise, die Entwicklungen, die gesetzten Maßnahmen etc. zu bewerten und mich irgendwie darüber auszulassen. Ich möchte noch nicht einmal über das Virus selbst schreiben.

Hier kommen jetzt auch keine Durchhalteparolen, kein Gemeinsam-sind-wir-stark, aber auch keine Schwarzmalerei und kein Wir-verrecken-alle-daran.

 

Stattdessen möchte ich eine Frage in den Raum stellen, die mich schon seit einiger Zeit beschäftigt:

 

Was macht das alles mit mir?

 

Entschuldigung, ich meine jetzt ganz egoistisch nur mich. Das ist pure Absicht, denn: Es gibt kein WIR. Ich kann nicht für meine Familie, meine Nachbarn oder gar die ganze Gesellschaft sprechen. Jede/r geht anders damit um, und die Auswirkungen sind auf unterschiedliche Weise mehr oder weniger spürbar. Eine/r wächst daran, der/die andere zerbricht daran. Und dazwischen ist auch noch ganz viel.

 

Es gibt natürlich Fragen, die ich mir auch in Bezug auf meine Mitmenschen stelle und wo ich einen öffentlichen Diskurs nicht wirklich feststellen kann (aber gut, ich bin kein Schwamm, der alles zum Thema Corona aufsaugt - schon gar nicht freiwillig).

Zum Beispiel:

Was hinterlässt das alles bei Kindern, die eine veränderte Realität und viele "Maskenmenschen" erleben und mit denen niemand darüber spricht?

Wie "gedeihen" andererseits Kinder, die schon früh im Leben eine ganz eigene Art der Resilienz entwickeln und die von ihren Eltern speziell jetzt zu Rücksichtnahme und Empathie ermutigt werden?

Da ich beruflich mit diesem Bereich zu tun hatte:

Was machen blinde Menschen in der Öffentlichkeit, die es nun noch schwerer haben, weil sie selbst nicht oder kaum auf den geforderten Sicherheitsabstand achten können? Und man auch nicht auf den Abstand zu Ihnen achtet und sie bemerken es nicht einmal.

Wie problematisch ist es für hörbeeinträchtigte und gehörlose Menschen, am öffentlichen Leben teilzunehmen, da sie wegen der "Maskenmenschen" eines wichtigen Hilfsmittels beraubt werden: dem Lippenablesen?

Was ist mit den vielen, vielen einsamen Menschen... jenen mit Angststörungen und/oder Depressionen?

Und so weiter.

 

Ich kann diese Fragen nicht beantworten, und auch meine eigene, die ich oben gestellt habe, bleibt offen.

Ich weiß es schlicht und einfach (noch) nicht.

 

Ich habe schon scherzhaft jemandem gesagt oder geschrieben, dass ich mich wohl zur Soziopathin entwickeln werde. Oder eine sonstige Persönlichkeitsstörung davontragen werde.

Na gut, das war wieder mal mein Sarkasmus, und ich gehe mal davon aus, dass es nicht ganz so krass wird (hoffe ich), aber völlig spurlos werde auch ich nicht davonkommen.

 

Da ist einmal die Sache mit dem Abstand.

Ich gebe zu: Da habe ich schon einen Knacks abbekommen... oder zumindest ein paar Risse. Risse ist gut - das gefällt mir besser als Knacks.

Obwohl ich keine Covid-Phobikerin bin, habe ich Angst, wenn mir jemand Fremder zu nahe kommt. Ich erschrecke und verspüre manchmal auch Zorn. Rational erklärbar ist das nicht, denn nochmal: Ich fürchte mich erstaunlich wenig davor, dass unbemerkt ein böses infektiöses Tröpfchen meine Schleimhaut kontaminiert. Ich habe einfach so Angst. Vor den Menschen. Weil ich es jetzt gewohnt bin - erschreckend schnell gewohnt bin - meinen "sicheren" Radius von 1-2 Meter rund um mich zu haben.

 

In einer Warteschlange zu stehen ist noch einmal eine besondere Challenge. Erst am Wochenende ist mir genau das, und damit auch mein "Näheproblem", ganz besonders bewusst geworden: Ich wartete in einer Reihe und hinter mir näherte sich eine ältere Frau, die sich relativ dicht an mich dranstellte. Zu dicht - schätzungsweise einen halben Meter. Ich drehte mich halb um und spannte da bereits meinen gesamten Körper an. Ich sagte mit fester Stimme - gerade so, dass es nicht wirklich unfreundlich klang:

"Können Sie bitte etwas Abstand halten?"

Was passierte? Sie verstand mich akustisch nicht - wegen der Maske oder weil sie schwerhörig war - und rückte noch näher.

Mein Herz machte einen Satz, begann zu jagen, und mir brach der Schweiß aus. Ich machte nun selbst einen Schritt weg, sammelte mich und wiederholte meine Bitte.

Jedenfalls... wir "einigten" uns und wechselten auch ein paar nette Worte in der Folge, aber meine Risse, mein Knacks, war(en) wieder gewachsen.

 

Dasselbe ist es, wenn ich auf dem Gehsteig gehe und mir jemand entgegenkommt. Entweder wird großräumig ausgewichen oder - wenn das nicht möglich ist - wechsle ich auf die Straße oder die andere Straßenseite. Oder die Person macht das von sich aus.

Bloß nicht zu nahe kommen, bloß nicht berühren. Das, was ich selbst nicht überschritten und missachtet haben will, spüre ich aber in aller Deutlichkeit:

Jemand weicht mir aus.

 

Vor einigen Tagen sah ich zum ersten Mal seit einiger Zeit eine Freundin, die mir wichtig ist, wieder. Ich stand vereinbarterweise vor ihrem Haus, klingelte und sie kam herunter, damit wir ein paar Worte wechseln konnten.

Über die Motorhaube eines geparkten Autos hinweg, mit etwa 3 Meter Abstand.

Keine Umarmung, keine Nähe. Vor ihr hätte ich nicht mal "Angst" gehabt, sie ist mir ja nicht fremd.

Dennoch: Ich war angespannt in meiner für den warmen Tag zu dicken Jacke, der herabbaumelnden Maske, und weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Eine aufkeimende politische Diskussion ging etwas schief, und ich spürte die Distanz - meine, nicht ihre. Ich kann es nicht erklären. Vielleicht, weil die ganze Situation - eine Unterhaltung auf diese Art - absurd war. Ich war viel zu schnell wieder weg, und es war mehr eine Flucht als eine wirkliche Dringlichkeit, und ich merkte wieder: Ich kann mit so einer banalen Situation nur schwer umgehen. Zumindest im Moment, und sie wirkt noch nach. Wie auch die Distanz.

 

Ich bin seit Wochen allein. Auch das macht etwas mit mir. Keine Sorge, jetzt kommt keine weinerliche, mitleidheischende Abhandlung über die Grausamkeiten der Single-Welt. Ich weiß nämlich, dass es mir viel besser geht als so vielen Menschen: Ich habe ein Dach über den Kopf, bin (so weit ich weiß) gesund, habe Menschen, denen ich etwas bedeute und umgekehrt, keine Betreuungspflichten und meine berufliche Zukunft, respektive Ausbildung, ist gesichert. Davon kann gerade derzeit nicht jeder sprechen.

Trotzdem wird es auch für mich - obwohl ich mit Alleinsein normalerweise gut klarkomme und es auch genießen kann - langsam immer zäher. Und hat vermutlich auch direkte Auswirkungen auf das, was ich oben zu Nähe und Distanz schrieb. Auch hier werden einige Risse hinzukommen.

 

Ja, sicher, bei allem, was vermeintlich schlecht ist, zeigt sich immer auch was Gutes. Wie oft habe ich das schon erfahren?

Ein Studiumsabbruch, der eine ungeahnte, neue Ausbildungsmöglichkeit zur Folge hat.

Eine Trennung, die einen Neubeginn in vielerlei Hinsicht ermöglichte.

Eine Krankheit, die eine Stärke in mir hervorrief, wie ich sie mir nie erträumt hätte.

 

Apropos Stärke.

"Du bist eine unheimlich starke Frau."

Das habe ich tatsächlich in den letzten Jahren schon öfter mich gehört.

Stimmt es? Ja, es stimmt.

Habe ich die Stärke erst durch den Krebs entwickeln können? Nein, sie war vorher schon da, nur wusste ich es nicht.

 

Vor über 7 Jahren kam ich am Tag, als ich von dem Tumor in meiner Brust erfahren hatte, im Krankenhaus - einem Ordensklinikum - an einer Jesusfigur vorbei, die an einem großen Kreuz hing. Obwohl ich nicht besonders gläubig war (und bin), sprach ich an diesem Abend zu Jesus und bat ihn um... Stärke. Um Kraft. Nicht darum, dass sich der Tumor in Luft auflösen möge, sondern einfach um Stärke, all das bewältigen zu können, was nun auf mich zukommen sollte. Dieser Wunsch wurde mir erfüllt. Mir wurde die Kraft geschenkt, zu sehen ... und meine eigene Stärke war das erste davon.

 

Corona ist nicht Krebs, und doch erinnert mich einiges manchmal daran. Vielleicht ja auch das Alleinsein. Denn egal, wieviele Menschen man um sich hat, wieviel Hilfe man erfährt... letztlich muss man als Krebskranke/r das Schwerste daran alleine bewältigen. Die Risse alleine kitten, wie auch jetzt, bei etwas eigentlich völlig Anderem.

 

Wobei.... vielleicht ist es nicht immer gleich erforderlich, alles verändern, alles verschlimmbessern zu wollen. Vielleicht sollte man es einfach mal so lassen. Eine Weile nur - und mal sehen, was daraus wird.

Möglicherweise auch etwas ungeahnt Gutes.

 

 

 

"Wir müssen Risse haben,

damit das Licht hinein kann.

Wir müssen Kanten haben,

damit es Risse gibt."

                                                    ~ LOVE A - "Kanten"

 

 

 

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