Von Pfotenabdrücken und Gefühlsausdrücken

Ein Kind geht zum Herd, streckt neugierig die Hand hinauf und legt sie auf die heiße Herdplatte.

Der Schmerz scheint übermächtig oder vielleicht gar nicht so arg, aber das Kind hat sich halt erschreckt. Die Folge ist meist dieselbe: Tränen.

Je kleiner wir sind, desto dominanter ist dieser Ausdruck von Emotion - kein Wunder, wir können ja zu diesem Zeitpunkt auch kaum erklären: "Also, die war jetzt echt heiß, die Herdplatte - das habe ich nicht kommen sehen. Ich verspüre Schmerzen, die hoffentlich bald vergehen."

Selbst als Erwachsene bedienen wir uns aber nicht immer der Sprache, sondern viele (nicht alle) Menschen lassen ihren Tränen freien Lauf, wenn es die Situation erfordert. Trauer, Sorgen, Ängste, Wut, Verzweiflung, eben auch Schmerz... die Aufzählung der damit verbundenen Emotionen würde viel Platz einnehmen.

 

Als Kind hat man - so die gängige Auffassung - den "Freibrief", um ungehindert und ungehemmt weinen zu dürfen. Dazu muss man nicht erst auf die Herdplatte greifen. Früher oder später kommt dann meist Scham hinzu.

Ich erinnere mich, wie ich mit 9 Jahren meinen ersten Kinofilm sah: "E.T. - Der Außerirdische". Das Ende empfand ich als so traurig, dass ich fürchterlich weinen musste - auch noch, als der Abspann bereits lief und die Saallichter bereits an waren. Ich konnte mich kaum beruhigen - und schämte mich sehr, weil mir das in der Öffentlichkeit passierte. Aber es schmerzte einfach zu sehr: Elliott hatte von seinem besten Freund Abschied nehmen müssen.

 

Es gibt das Weinen wie das eben beschriebene - es lässt dich den Schmerz intensiv spüren. Er schneidet dir ins Herz und lässt es gleichzeitig förmlich anschwellen. Wer intensiv mitfühlt, der macht dann auch keinen Unterschied zwischen Fiktion und Realität.

 

Eine (weitere) Fiktion:

Der 1940 gedrehte Schwarzweiß-Streifen "Krambambuli", der von einem streunenden Hund und seiner bedingungslosen Liebe zu seinem (auserkorenen) Herrn handelt. Ich habe absolut vergessen, wie alt ich war, als ich diesen Film sah - ich weiß nur mehr, ich schwor mir hinterher, ihn mir nie, nie, nie mehr wieder anzusehen. Ich war vor Trauer schier überwältigt, durch mehrere Szenen... sie beschrieben Verlust. Von einer geliebten Person, vom eigenen Leben.

 

Und nun zur Realität:

Meine Familie war immer schon eine "Tier-Familie". Bereits, bevor ich geboren wurde, gab es welche. Als ich ein Kleinkind war, hatten wir drei Katzen. Mit 5 Jahren erlebte ich dann meinen ersten tiefgreifenden Verlust: Wir zogen von einem Haus in eine Wohnung, in die wir nicht soviele Katzen mitnehmen konnten oder durften. Also behielten wir eine, und die beiden anderen bekamen einen Platz auf einem Bauernhof. Ich saß auf dem Rücksitz des Autos - die beiden Katzen waren bereits außer Sicht- und Reichweite - und ich empfand es, als hätte mir jemand das kindliche Herz herausgerissen. Verlust.

 

Tränen bedeuten Verlust. Verlust bedeutet Tränen. Irgendwie, irgendwo besteht plötzlich ein Mangel.

Und wenn wir nur die Schmerzfreiheit verloren haben. Die Normalität. Ein geliebtes Wesen, Mensch oder Tier. Selbst einen Gegenstand zu verlieren, kann uns in Tränen ausbrechen lassen.

 

Tränen bedeuten aber auch Ausdruck. Der so wichtig und nötig ist, als Filter, als Ventil. Wir alle weinen und sollten auch weinen, um Gefühlen Raum zu geben, die sich entfalten wollen. Nicht zu weinen, schadet uns auf Dauer. Lässt uns verhärten, stumpft uns vielleicht manchmal sogar ab.

 

Ich schwinge jetzt nicht die Plattitüden-Keule nach dem Motto: "Auch Männer dürfen weinen." (Auch wenn es stimmt!)

Es gibt in meiner Familie jemanden, der als Mann seinen Tränen ungehemmt freien Lauf lässt, wenn die Situation es erfordert. Sehr, sehr oft sind es einfach Tränen der Rührung, wenn er sich von etwas - einem Bild, einem Text, egal was - ergriffen fühlt. Dass man als "tougher" Mann so ist, würden wohl so einige amüsiert belächeln - aber ich liebe ihn dafür, dass er so ist wie er ist, und ich bin stolz auf ihn.

 

Eben schrieb ich, dass Verlust auch Verlust von Normalität bedeuten kann. Normalität, die uns oft gar nicht so bewusst ist. In Zeiten wie diesen, die wir gerade haben, denken wir jedoch bestimmt oft daran zurück und sehnen uns danach. Lieber möge alles seinen womöglich banalen und langweiligen Gang gehen, bevor es plötzlich so ist.

Mich erinnert das an die Zeit meiner Krebserkrankungen. Früher oder später kommt nämlich die Phase, wo man einfach nicht fassen kann oder will, dass man sein gewohntes Leben - sein ungefährliches, unbeschwertes Leben (ich weiß - Illusion) - verloren hat, wenn man sich plötzlich mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzt... und man hat nicht mal die Wahl.

 

Was ist nun der Sinn dieses neuen Beitrags? Wo ist der rote Faden? Wo ist der dramaturgische Aufbau, wo ist die nachvollziehbare Gliederung?

Diesmal nicht, Freunde.

Geht einfach nicht. Spezielle Umstände erfordern spezielle Vorgehensweisen. Daher ist das, was ich heute zu virtuellem Papier bringe, eine Ansammlung von Gedanken-Versatzstücken, Erinnerungsfetzen, selbstgebastelten Weisheiten und vermutlich trotzdem Plattitüden. Sei's drum. :-)

 

Der Grund ist: Ich schreibe diesen Text heute in Gedenken an ein besonderes Wesen, das mit seiner bedingungslosen Liebe, Güte und Einzigartigkeit mein Leben fast zehn Jahre lang reich machte. Ich habe dafür nur wenig Worte, die das angemessen beschreiben können, daher meine ellenlange "Einleitung".

Ein Freund schrieb mir vor wenigen Tagen, er sei sicher, dass uns unsere Tiere, die wir gehen lassen müssen, eines Tages im Himmel - wenn es auch für uns soweit ist - abholen werden. Diese Vorstellung gefällt mir. Wenn das wirklich stimmt, fürchte ich mich nicht vor dem Tod, denn es wird dann eine ganze Tierschar sein, die mich in Empfang nehmen wird. Jedes einzelne von ihnen hat einen Pfotenabdruck hinterlassen, der nicht sichtbar ist.... und gerade die nicht sichtbaren Dinge sind oft diejenigen, die uns am meisten zum Weinen bringen.

 

 

For one so small

you seem so strong

Phil Collins - You'll Be In My Heart

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    YC (Dienstag, 23 Juni 2020 22:51)

    Ich bin berührt und gerührt!