Unter der Käseglocke, Teil 2

(Bildquelle: www.fiz-x.com)
(Bildquelle: www.fiz-x.com)

Es war nicht anders zu erwarten: Bei all meinen bisherigen Beiträgen habe ich mich einfach hingesetzt und munter drauflosgetippt. Das, was ich loszuwerden hatte, ist nur so aus mir rausgeflossen, und die Sache mit dem (schwarzen) Humor immer mal dazwischen - ja, das kann ich... das liegt mir.

 

Jetzt dagegen sitze ich vor dem blinkenden Cursor wie die Kuh, wenn's blitzt.

 

Wie fange ich an darüber zu schreiben, wie der Tag war, an dem die Hölle (endgültig) losbrach?

Antwort: Aus einer anderen Perspektive.

Es heißt ja, dass sich, psychologisch gesehen, mitunter Teile der Persönlichkeit vorübergehend abspalten können, wenn Erlebtes zu traumatisierend ist. Das könnte ich zwar von mir nicht behaupten, doch um von diesem Tag zu berichten, gehe ich jetzt weg von der profanen Ich-Erzählung und bediene mich eines Stilmittels, das den 26. September 2012 von verschiedenen Seiten beleuchtet ... bis ICH dann am Gipfel des Crescendos selbst übernehme und wieder durch meine Augen blicke.

Die Personen gibt und gab es tatsächlich, die "Erzählungen" in dieser Form natürlich nicht (niemand wurde interviewt), aber alles, was sie enthalten, ist das, was tatsächlich passiert ist.

 

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26.09.2012

 

07:15

B., Lebenspartnerin

 

Ich habe sie gefragt, ob ich sie ins Krankenhaus begleiten soll, aber sie hat gemeint, dass sie den Weg allein gehen muss. Das kann ich verstehen. Ich sehe ihr nur eine minimale Erleichterung an, dass es jetzt endlich losgeht. Nach der Melanom-Diagnose musste sie ja nicht lange warten - nicht mal eine Woche - aber dennoch hat es sich endlos hingezogen. Heute rückt sie ein, morgen wird sie operiert. An meinem Geburtstag. Das tut ihr weh, dass wir den nicht zusammen feiern können, aber wenn dieser ganze Albtraum vorbei ist, holen wir es einfach nach. Sie schaut blass aus, und ihre Augen sind glasig, aber sie hat - wie immer sehr sorgfältig in ihren Planungen - die Tasche fertig gepackt und will jetzt gehen. Ich umarme sie noch einmal. "Ich komme nach der Arbeit vorbei", sage ich. Sie nickt geistesabwesend. "Ich melde mich später und sage dir die Zimmernummer."

Wir verabschieden uns. Einen Moment später lehne ich mich aus dem offenen Fenster und schaue ihr nach. Einsam geht sie die Straße entlang. Zumindest glaube ich, dass sie sich gerade einsam fühlt. Sie sieht so aus. Die Tasche wirkt zu groß, ihre Schritte wirken angespannt, aber nicht zögerlich. Ich denke, sie hat fürchterliche Angst... aber sie weiß, dass ihr nichts anderes übrigbleibt, als ihr gegenüberzutreten.

 

07:45

Schwester M., Bettenstation Plastische Chirurgie

 

Mein Dienst hat eigentlich gerade erst angefangen, aber schon habe ich jede Menge zu tun. Ein Ruf aus Zimmer 4, Medikamente wollen hergerichtet werden und am Schwestern-Stützpunkt ist auch jede Menge los. Wie jetzt... eine Frau. Wie ein Häufchen Elend sieht sie aus, wenn ich ehrlich bin. Sie hat eine Tasche dabei, also checkt sie ein. Ich muss gleich am Computer nachsehen. Plötzlich bricht die Frau in Tränen aus, bevor sie noch irgendetwas anderes gesagt hat. "Könnte ich bitte bei jemandem einen Termin haben, der psychoonkologisch ausgebildet ist?", fragt sie und reibt sich über die Augen. Ich versichere ihr, dass ich dafür sorgen kann und weise ihr, während sie auf die Blutabnahme wartet, ein Bett in Zimmer 2 zu.

 

08:30

K., 17 Jahre, Zimmer 2

 

Alter, kotzt mich das an, dass ich im Spital herumhängen muss, bloß wegen des blöden Dingsbums am Finger. Ganglion oder so. Morgen schnippeln die mir das weg. Ich liege in einem Zimmer mit zwei anderen Frauen. Die eine, am Fenster, kriegt eine Schönheitsoperation oder so, und die zweite ist etwas jünger und starrt vor sich hin, spricht kein Wort. Was die hat, weiß ich nicht. Hoffentlich haben die hier alle deutschen Fernsehsender, ich will 'How I Met Your Mother' nicht verpassen.

 

09:20

B. G., Radiologie-Assistentin

 

Sie haben vorhin die Melanom-Patientin aus der Plastischen heruntergeschickt. Wie immer in so einem Fall muss man herausfinden, ob der Tumor schon irgendwo gestreut hat. Ich mache das routiniert, will mir nicht zuviele Emotionen leisten, auch wenn sie mir leid tut - sie hat ganz lethargisch die Arme gehoben, als ich sie darum bat. Das Lungenröntgen war dann auch schnell erledigt. Der Herr Doktor hat bald auf die Bilder geschaut, und es waren keine Auffälligkeiten zu entdecken.

 

09:45

Schwester H., Radiologie-Assistentin

 

Ich gehe hinaus in die Wartezone und schicke Frau F., die immer noch wartet, zur Bestrahlung nach unten, und dann hole ich die andere Frau herein. Sie trägt eine dunkelblaue Jogginghose mit weißen Seitenstreifen und ein schwarzes T-Shirt mit irgendeiner Band vorne drauf. Sie folgt mir mit gesenktem Kopf. Ich bitte sie, sich in der Umkleidekabine oben rum freizumachen, und dann kann sie hereinkommen und sich auf die Liege legen. "Der Herr Doktor kommt gleich." Der Raum, in dem die Sonographien gemacht werden, ist ziemlich klein und naturgemäß meist sehr dunkel. Mir macht das ja nichts aus, aber ich höre am Atem der Patientin, dass sie Angst hat.

 

09:55

Dr. P., Oberarzt für diagnostische Radiologie

 

Die Patientin wirkt angespannt und spricht kaum, aber sie hebt die Arme und dreht sich um, wenn ich sie darum bitte, das macht es mir leichter. Das Melanom war am rechten Schenkel, also schalle ich die Leistengegend rechts. Da sind die Lymphknoten zystisch/knotig aufgetrieben, aber unter 1 cm groß. Ich mache routiniert meine Arbeit. Keine fokalen Leberläsionen. Milz normal. Das Retroperitoneum unauffällig. Kein Aszites. Jetzt zu den Achseln... Was ist das? Hier finden sich deutliche vergrößerte Lymphknoten rechts. Das muss einen Grund haben. Der Atemrhythmus der Patientin verändert sich, beschleunigt sich, als ich hinunter zur Brust schalle - ich muss dem Ganzen ja auf den Grund gehen. Tatsächlich... ich werde fündig. Sekundenlang gleitet der Schallkopf auf der Haut hin und her. "Da sitzt was", sage ich und betrachte die traubenförmige suspekte Läsion im rechten äußeren/oberen Quadranten auf dem Bildschirm. "E., komm her... schau dir das an." Meine Arztkollegin, die ebenfalls im Raum ist, stellt sich neben mich und sieht ebenfalls auf den Monitor. "Ich weiß nicht", sagt sie und ich kann mir vorstellen, dass sie im Dunkeln die Stirn runzelt. "Bist du sicher?" Der Schallkopf gleitet an der Stelle weiter hin und her, drückt ins Gewebe. Der Patientin entfährt ein Schluchzen, sie fängt an, sich leicht auf der Liege zu winden. Als wolle sie aufstehen und davonlaufen. "Das müssen wir uns jetzt anschauen, es hilft nichts", sage ich zu ihr und mache weiter. "Immer wenn ich drücke, löst es sich auf, siehst du?" - "Ohne Stanzen lässt es sich ohnehin nicht sagen." Ich beende das Zwiegespräch mit meiner Kollegin und wende mich der Patientin zu. "Das heißt jetzt mal gar nichts", sage ich möglichst beruhigend. "Man muss das aber noch weiter abklären." Sie sagt kein Wort - fast denke ich schon, sie hat gar nicht zugehört. Als ich ihr sage, dass sie auf die Station zurückgehen kann, erhebt sie sich wortlos und geht in die Umkleidekabine.

 

10:15

Ich.

 

Es fühlt sich an, als hätte mir jemand jeweils eine örtliche Betäubungsspritze in den Kopf und ins Herz gejagt. Ich stehe zitternd, mit Gänsehaut auf den Armen, in der Umkleidekabine und wische mir wie in Trance das Kontaktgel vom Oberkörper und von den Leisten. Ich wische mechanisch und doch unzureichend, denn als ich nach dem Türschloss greife, spüre ich den kalten Glibber überall am Hosenbund. Es stört mich und ist doch egal. Nach den erstickend engen, dunklen Momenten im Untersuchungsraum trete ich jetzt aus der Umkleidekabine heraus und fühle mich dennoch keine Spur erleichtert. Wie auch? Wie in einem Schraubstock fühlt sich mein Kopf an, heiß, pochend. Ich habe das Gefühl, verlernt zu haben, wie man richtig atmet.

Da ist sie wieder... die Käseglocke. Diesmal hat sie sich jedoch nicht über mich herabgesenkt - jemand hat sie dröhnend und abrupt über mich drübergeworfen.

Watte. Die Welt draußen, ich drinnen.

Ich möchte die Hände an die gewölbte Scheibe legen und schreien. Vor einer Woche war irgendwie alles noch so unperfekt, aber doch irgendwie in Ordnung. Gewohnter Gang eben.

Jetzt aber: HÖLLE.

Es ist alles wie in Zeitlupe, selbst meine Gedanken. Sie wollen aufkommen... sich bemerkbar machen.

Muss ich jetzt sterben? Ich muss sterben.

Mit Gewalt blocke ich das ab und strecke meine Hand nach der getünchten Wand aus. Ich stehe auf einem langen Gang, nach beiden Seiten hin offen, und ich habe vergessen, wo ich hin muss.

Die eine Richtung nicht, nein... da geht es irgendwo zum Haupteingang.

Ich will nach Hause zu B.

Langsam setze ich mich in Bewegung, in die andere Richtung. Die Hand an der Mauer entlang.

Würde man einen Witz machen wollen, würde man sagen: Wie Ellen Ripley auf der Nostromo, auf der Flucht vor dem Alien. Oder wie Leo diCaprio auf der Titanic. Aber mir ist nicht nach Witzen zumute.

Ich gehe an der Wand entlang, ständig darauf achtend, den Handkontakt zur Mauer nicht zu verlieren. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn doch. Würde ich dann umfallen? Oder vielleicht dagegenlaufen und mir den Schädel aufschlagen?

Wie können die mich einfach mit ALLEM alleine lassen? Haben die nicht gesehen, in welchem Zustand ich bin?

Don't be dramatic, würde die Witzmaschine in mir im Normalfall ausspucken, aber ... siehe oben.

Mein Herz schlägt, hämmert sogar, der Kopf ist heiß, und ich gelange nach einer gefühlten Ewigkeit ans Ende des Ganges. Ich weiß, ich muss zum Aufzug... aber zu welchem? Ich steige in den erstbesten ein, drücke auf irgendeinen Knopf. Was ist es? Der 5. Stock?

Ist das nicht scheiß-scheiß-SCHEISS-egal? Ich sterbe. Ich bin verkrebst.

Wieder will in mir was losschreien, sich mit dem Erlebten der letzten Viertelstunde irgendwie auseinandersetzen, es begreifbar machen, aber etwas anderes schützt mich davor, hält der Stimme den Mund zu, will es nicht wahrhaben.

Vielleicht ist es gar nichts. Vielleicht ein Irrtum. Vielleicht aber auch nicht.

Ich lande in der falschen Abteilung, steige ebenso ferngesteuert wie zuvor wieder in den Aufzug und fahre nach unten.

Ich bin weiter zu keinem klaren Gedanken fähig, und mir wird bewusst, dass ich so etwas wie einen Schock habe. Fühlt sich so ein Schock an? Ich weiß es nicht, und es ist mir egal. Alles ist so egal. Nur nicht, ob ich lebe oder sterbe. Im Moment aber vielleicht sogar das.

Ich verbringe weitere Minuten damit, den richtigen Aufzug zu finden und es gelingt mir schließlich.

Als ich in den 5. Stock hinauffahre, greife ich mir unter das T-Shirt.. ich greife da hin.

Ich hätte gerne einen kindlichen Glauben: Was ich nicht sehe... was ich nicht spüre... ist nicht da.

Aber da ist er. Ein derber, erschreckend großer Knoten. Viel zu groß.

Wie konnte ich den nicht selber entdecken, früher?

Ja ja.

39 Jahre.

So jung.

Ich doch nicht.

Mammographie? Später irgendwann.

Die Lifttür öffnet sich. Ich stehe da... kann nicht einfach ins Zimmer gehen. Ich sehe Frau Dr. M., mit der ich schon das Aufnahmegespräch führte.

Ich will die Worte nicht aussprechen... eigentlich will ich am liebsten nie wieder etwas sagen.

"Die haben was in der Brust gefunden."

Sie hält inne, berührt meinen Arm und führt mich ins Arztzimmer.

Sie redet mit mir, beruhigt mich, tröstet mich. Ich weine. Ich bin verzweifelt, weil ich genau begreife, dass mir die einfühlsamsten Worte nicht helfen können... nicht bei dem, die Realität zu begreifen.

Ich muss da alleine durch. Ich kann noch soviele Menschen an meiner Seite haben, jetzt und ab jetzt... den Weg muss ich alleine gehen, den kann mir keiner abnehmen.

Hat mir schon die Melanom-Diagnose den Boden unter den Füßen weggerissen, so hat die Entdeckung des verdächtigen bedrohlichen Gewächses in meiner rechten Brust dafür gesorgt, dass der tiefe Fall nach unten unausweichlich ist.

Oder?

 

Es ist 2012.

Ich bin Marlies.

Der Krebs füllt gerade mein Leben aus, bis in den hintersten Winkel meines Kopfes.

Er schlich mir tagelang nach, wohlwissend, dass ich nicht weiß, dass die erste Diagnose noch nicht das Ende vom Lied ist, und als ich in dem dunklen engen Sonographie-Raum lag, packte er mich an der Gurgel und geiferte mir grinsend ins Gesicht.

Also doch wie das Ridley Scott-Alien.

 

Zwei Tage später sticht mir jemand in die Brust, um die traubenförmige Läsion genauer zu untersuchen.

Ich liege im Bett am Gang (schon wieder ein Gang) und stehe gleichzeitig am Scheideweg zwischen Fallen und Weitergehen, und während der Funke in mir geboren wird, weiß ich schon bald:

 

Ich bin Ellen Ripley.

Ich habe Angst, ich bin allein, und ich würde mich am liebsten verstecken.

Aber am Ende trickse ich das Alien aus, öffne die Raumschiff-Schleuse und jage das verdammte Ding in das All.

 

This is Ripley, last survivor of the Nostromo, signing off.

 

 

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Rösi Repa (Dienstag, 25 Februar 2020 06:27)

    Habe deine Zeilen mit Spannung und Begeisterung gelesen.aufgesaugt und wurde für einen Moment sehr nachdenklich.hier in Brasilien bei meiner Tochter der ich unendlich viel verdanke ! Danke auch dir liebe Marlies.........���