Unter der Käseglocke, Teil 1

Es heißt, wenn man in seinen Jugendjahren ist oder die Zwanzig noch nicht weit überschritten hat, der Körper sämtliche Eskapaden klaglos mitmacht und man zumeist vor Kraft und Dynamik nur so strotzt, dann fühlt man sich unkaputtbar... eigentlich unsterblich.

Nein, jetzt folgt keine philosophische Abhandlung über das Alter an sich.

Es ist nur die passende Einleitung dafür, dass ich mich selbst mit 39 Jahren zwar vielleicht nicht unvergänglich, aber doch im Großen und Ganzen halbwegs okay fühlte. Bisschen Kreuzweh hier und da, und da und dort eine Falte, aber meine Güte... man ist halt kein Jungspund mehr.

 

Ansonsten tuckert das Leben so vor sich hin, auf einer Straße, die das eine oder andere kleine Schlagloch aufweist, aber ansonsten geregelt und schnürlgerade Richtung Horizont führt. Den Seitenstreifen braucht man nicht unbedingt zu berühren, und auch wenn die Lebens-Landschaft keine atemberaubenden Sehenswürdigkeiten zu bieten hat, kann man sich doch darauf verlassen, dass man in wohlbekannten, wenngleich auch manchmal etwas langweiligen Gefilden vor sich hingrundelt.

 

...Bis das Leben auf einmal die Autotüren automatisch verriegelt, das Gaspedal durchdrückt und der Sicherheitsgurt auch nicht mehr das ist, was er mal war. Er ist nicht plötzlich ausgeleiert - nein - er ist weg.

Und dann befindet man sich von einer Sekunde zur anderen auf der Abbiegespur und nimmt eine scharfe Kurve, schnappt nach Luft, donnert mit dem Kopf mindestens gegen das Seitenfenster, reißt die Arme hoch, um instinktiv den Körper zu schützen - und los geht die Amokfahrt. Die fremdgesteuerte Amokfahrt.

 

Weg von der Metapher, rein ins Jahr 2012, 20. September, es gibt keine Werbeunterbrechung mehr, keinen Trailer, keinen Vorspann.

Die Marlies aus einem früheren Leben (die noch nicht weiß, dass tatsächlich ihr Leben gleich mittels sauberem, scharfen Schnitt in zwei Hälften geteilt wird) räumt an ihrer Arbeitsstelle gerade den Geschirrspüler aus und wartet auf ihre ArbeitskollegInnen, als das Handy läutet.

 

"Hallo?"

"Ja.. Grüß Gott, chirurgische Praxis Dr. S., spreche ich mit Frau Sch.?"

".... Ja."

"Ich möchte Sie bitten, zur Befundbesprechung vorbeizukommen."

....... "Ist es ein Melanom?"

"Ja... leider."

"............... "Kann ich sofort kommen?"

"Ja, natürlich."

 

Manche Dinge merkt man sich, Wort für Wort. Genau wie die Situation an sich, und die große Käseglocke, die sich in exakt diesem Moment über mich stülpt, mich von der banalen Alltagswelt trennt und zu allem Überfluß auch noch mit Watte ausgestopft ist. Kaum etwas dringt noch zu mir durch, alles prallt ab, verlangsamt sich, schrumpft.

Alles wird unwichtig. Alles andere.

 

Ich habe Krebs.

Mein unter Glas geschützter Kopf lässt kaum einen anderen Gedanken zu. Der Körper dagegen (der kranke, jetzt überhaupt nicht mehr unkaputtbare Körper) funktioniert automatisch wie in Trance, als ich meine Jacke und den Rucksack nehme und das Gebäude verlasse, ohne jemandem zu sagen, wo ich eine Stunde vor Dienstbeginn hingehe.

Wenn ich jetzt den Mund öffne, quillt sicher die Käseglocken-Watte hinein und dann wieder hinaus, aber ich schaffe es dennoch, meine Freundin anzurufen.

Ich warte auf den Bus, gehe dann doch zu Fuß, fühle mich wie ferngesteuert.

 

Ich habe das Scheißding, das man mir vor exakt einer Woche aus der Wade excidiert hat, eigentlich schon wieder vergessen. Zuvor hat es mir keine Ruhe gelassen, weil es innerhalb weniger Monate relativ schnell neu gewachsen ist, aber der Hautarzt mit über 30 Jahren Erfahrung weiß ja bestimmt, was er sagt, wenn er vom bloßen Draufschauen aus einem Meter Entfernung kurz und knapp abwinkt und meint, es sei...

 

"Nix."

 

"Nix" heißt mittlerweile spitzoides Melanom und ist eine "atypische melanozytäre Läsion" mit Clark Level IV und Tumordicke (nach Breslow) von 1,2 mm.

Das erfahre ich, als ich wie betäubt im Ordinationszimmer des Facharztes für Chirurgie sitze und meine Käseglocke ein Stück weit anhebe, damit ein paar Worte des Mediziners zu mir durchdringen.

 

Operation.

Transplantation.

Spalthaut.

Defektdeckung.

Wächterlymphknoten.

Vielleicht Interferon-Therapie.

 

Später, vor allem nach der Voruntersuchung im Krankenhaus, kann ich das Puzzle dann zusammensetzen. Es ist, als würde man über einem klitzekleinen, möglicherweise kontaminierten Gebiet eine Bombe abwerfen:

Da, wo zwei blitzblaue Kunststofffäden die Stelle markieren, wo mir das Muttermal (das ich trotz "nix" unbedingt entfernt haben wollte) fein säuberlich entfernt wurde, soll ein wesentlich größerer Teil Haut und Gewebe weggeschnitten werden, um ja alles zu erwischen, was sich dort womöglich an aktiven Krebszellen tummelt. Und da man die offene Wundstelle nicht einfach zutackern kann, wird mir vom Oberschenkel Haut entnommen und transplantiert. Zusätzlich werden aus der Leiste Lymphknoten entfernt, die - Sentinel genannt - wandernde maligne Zellen als erstes auffangen.

Und dann wird man sehen. Mit meiner Tumordicke bin ich sozusagen an der Grenze, und von den Lymphknoten hängt es ab, ob ich mich noch einer Interferon/Interleukin-Therapie unterziehen muss.

 

Die Käseglocke sitzt stramm. Sie schützt mich vor der Geschwindigkeit und Wucht, mit der mich die Geschehnisse erfassen. Wobei... so ganz stimmt das nicht. Geschützt fühle ich mich nicht wirklich, aber die Intensität wird ein klein wenig abgemildert. Ein schlecht funktionierender Airbag aus Glas, aber immerhin.

Es gibt Menschen, die sofort den Kampfanzug überstreifen, die Faust ballen und proklamieren:

"Daran sterbe ich ganz sicher nicht."

Nein, das schaffe ich zu dem Zeitpunkt nicht. Ich bin da noch ein paar Tage davon entfernt, den Funken zu entzünden. Noch bricht alles über mich herein, raubt mir (vermeintlich) die volle Kontrolle über mich und mein Leben, und die Angst schlägt mir aggressiv die Zähne ins Fleisch und vergiftet mich.

Der mit Watte gefüllte Kopf unter dem Käseglockenglas lässt die abstrusesten Gedanken vorbeiziehen.

 

Ein Melanom.
Hautkrebs.

Wenn es wenigstens ein imagemäßig spektakulärerer Krebs gewesen wäre - aber nein, es muss der völlig uncoole Hautkrebs sein.

 

(Ich hatte ja noch keine Ahnung, was da noch auf mich zukam.)

 

Warum denkt man sowas? Keine Ahnung.

 

Bei allem weiterem greife ich nicht vor. Eindrücke, Gedanken, Erlebnisse... da ist noch Platz und Spielraum für viele Blog-Beiträge.

Wie zum Beispiel, als ich in der Klo-Kabine in meinem Krankenhauszimmer saß und draußen die Bettnachbarin mit der Krankenschwester über mein "Schicksal" sprechen hörte. Was mich zornig machte, weil das so endgültig und nach Aufgeben und Tod klang. Ihr werdet schon noch sehen, dachte ich da.

 

Heute sehe ich eine perfekt verheilte, kiwigroße Einbuchtung in meiner Wade außen. Mein erstes Kriegsmal, dem noch weitere folgen sollten. Der rechte Oberschenkel weist drei schnittförmige Narben in Leistennähe auf. Dort waren einst jeweils drei Wächterlymphknoten entfernt worden, die sich allesamt als blitzsauber herausstellen sollten. Genau wie das entfernte Wadengewebe.

 

Mein Melanom hat den Gong für die erste Runde geläutet und mir gezeigt, dass ich doch nicht so unsterblich bin. Es hat mir gezeigt, was es heißt, sich von Todesangst packen und würgen zu lassen.

Es hat mir aber auch gezeigt, dass es in meinem speziellen Fall einen Sinn hatte, denn davon bin ich zu 100% überzeugt.

Ohne dieses kleine 7mm rosabraune erhabene Fleckchen hätte ich wahrscheinlich noch ewig nicht herausgefunden, dass es einen weiteren, mächtigeren Feind geben sollte, der noch nicht entdeckt worden war. In Kürze würde sich die Käseglocke ein zweites Mal über mich herabsenken, exakt 6 Tage nach der Melanom-Diagnose.

 

Es erforderte zeitlichen Abstand, aber für mich stand dennoch relativ bald fest, dass diese erste Erkrankung nur einen Zweck gehabt hatte: auf die zweite aufmerksam zu machen.

Nach dem Motto: Ich komme, zeig's dir und dann geh ich wieder.

Vielleicht sollten wir uns also über den Coolness-Faktor "meines" Melanoms noch einmal unterhalten...

 

 

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