Die Formel für Glück

Oh ja ja, ich kann es förmlich spüren, das kollektive Atemanhalten:

Erst der fünfte Beitrag und schon erdreistet sie sich, uns die Fragen aller Fragen beantworten zu wollen? ;-)

Okay, so mutig bin nicht mal ich...

... und doch visiere ich dieses Thema jetzt einmal an, schnuppere Sphärenluft, kreise ein wenig, denke an eigene aktuelle Anlässe und pflanze mich für einen Augenblick ganz unverschämt mitten rein.

 

Dazu 2 Szenarien:

 

Szenario 1:

Ich sitze in meinem Rollstuhl, schlage mit der Faust auf die Armlehne und bin so wütend, weil ich Krebs habe. Genauer kann ich diese Emotion gerade nicht beschreiben, aber da ich ohnehin sehr selbstreflektiert bin, lasse ich das raus - zumeist in Gegenwart einer Psychoonkologin.

Aber was ich auch spüre, ist das:

Ich sage: "Ich bin ganz sicher, dass diese Krankheit nicht nur Schlechtes für mich bereithalten wird. Ich habe noch keine Ahnung WIE, WANN und auf WELCHE Weise - aber ich weiß ganz genau, dass ich auch wichtige Dinge über mich lernen werde."

Das kommt aus dem Nichts, ist so etwas wie ein persönlicher Strohhalm zum Anklammern, aber doch in erster Linie vor allem Intuition.

 

Szenario 2:

Der Krebs ist weg. Ich lebe. Ich habe eine Zukunft. Mir stehen Möglichkeiten offen. Ich ergreife Chancen, die nicht alle Menschen haben. Ich lege los, mit Energie, mit Dankbarkeit, mit Selbstsicherheit... und dann:

Zweifel.

Noch mehr Zweifel.

Ein großes Tief.

Etwas Abstand.

Und dann... Klarheit, und eine Entscheidung.

Gegen die "große Chance", aber FÜR MICH.

 

Zwei Szenarien, die auf den ersten Blick nicht wirklich etwas miteinander zu tun haben, aber auf den zweiten sehr viel.

 

Wer einmal an der berühmten "Schwelle" stand und sehr krank war (egal, ob es sich um Krebs oder eine Krankheit handelt... wir nehmen jetzt mal Krebs an) UND die Krankheit überwindet, besiegt oder wie immer man es nennen will:

 

Hinterher ist nichts mehr wie zuvor.

 

Da erzähle ich jetzt niemandem etwas Neues.

Man entwickelt meist einen völlig neuen Bezug zum Leben, zu sich selbst und seinen Mitmenschen, betrachtet vieles aus einem neuen Blickwinkel und rhabarber-rhabarber-rhabarber.

Nein, das ist keine Abwertung dieses Prozesses (schließlich habe ich ihn in Teilen selbst erlebt), aber es ist halt das, was man immer wieder liest, hört, vielfach vorgelebt bekommt oder auch selbst von sich erwartet, und das kann mitunter in Druck ausarten:

 

Du lebst noch! Sei dankbar!

 

Und:

 

Mach' was draus!

 

Während ohnehin ein großer Teil der (industrialisierten) Welt mit Selbstoptimierung beschäftigt ist, was manchmal etwas wahnhafte Züge annehmen kann, hat der/die (ehemalige) Krebskranke in vielen Fällen ein schlechtes Gewissen, weil er vielleicht NICHT jede Chance zum Glück ergreift.

Keine Frage, dass Dankbarkeit und Demut empfunden werden (können), weil das Leben unzweifelhaft ein Geschenk ist.

Je nach Stadium der Erkrankung hat man unterschiedliche Werte, Maßstäbe und Definitionen von Glück. Hinzu kommen die Einzigartigkeit und der Charakter jedes einzelnen Menschen, unabhängig von seiner Krankheit.

 

Ich sage jedenfalls über mich selbst:

 

"Nur", weil ich meine Krebserkrankungen überlebt habe, muss ich nicht JEDE Chance ergreifen und mich daran festhalten. Letzteres vor allem dann nicht, wenn sich mit der Zeit herausstellt: Das ist mir nicht (mehr) dienlich. Das tut mir nicht gut. Das lähmt mich, schwächt mich.

Ich tu' etwas dagegen.

 

Was ist die Definition von Glück, vor allem für (ehemals) Erkrankte?

Leben. Noch möglichst lange leben. Wenig Schmerzen. Eine Blumenwiese sehen. Katzen streicheln. Ein Bier mit Freunden trinken und Spaß haben. Eine Top-Ausbildung absolvieren.

Es gibt zig Tausende von Beispielen.

 

Ich muss nochmal die Chance ergreifen, dachte ich von mir selbst. Was aus mir machen, jemand sein, etwas leisten... weil mir ja das Leben nochmal geschenkt wurde.

Da heißt es halt durchbeißen, am Riemen reißen, sich durchboxen, kämpfen.

Nicht wahr?

 

Oder?

 

Nochmal anschauen, diese Begriffe: "beißen", "reißen", "boxen", "kämpfen".................

 

Und daher komme ich an dieser Stelle zurück zu der Gewissheit, die ich in Szenario 1 verspürte:

Diese Krankheit hält auch etwas Gutes für mich bereit.

 

Das tat sie, und das ist mein wichtigster Schatz... es ist ein Geschenk:

Ich, die ewig Angepasste, die immer lieber den Kopf einzog und alles (auch das Unangenehme) über sich ergehen ließ, habe DURCH MEINE KRANKHEIT gelernt:

 

Ich nehme wahr und achte, was ich brauche und nicht brauche, was ich will und was ich nicht will.

Ich vertraue meinem Gefühl und meinem Verstand und stelle beides über die sogenannte Vernunft und Konformitäten.

Ich halte Innenschau und verschließe mich nicht vor dem, was ICH mir selbst sagen möchte.

Ich agiere nicht GEGEN mich... ich agiere FÜR mich.

 

Weil ich nicht bereit bin, meine Grenzen zu missachten und immer wieder zu überschreiten.

Weil ich nicht (mehr) bereit bin, andere Dinge über meine Gesundheit und meine Lebensqualität zu stellen.

Ich handle - ganz unegoistisch - in meinem Sinn.

Weil ich es selbst oft nicht begreife, aber genau das eigentlich tue: Ich mache das aus Liebe zu mir selbst.

 

Das ist das Geschenk.

Und da schließt sich auch der Kreis zu Szenario 2.

 

Derlei Szenarien gibt es viele, für jede/n von uns. Mir ist all das auch nicht vom Himmel in den Schoß gefallen. Ich musste und muss durch Tränen, Traurigkeit und Versagensgefühle hindurch, aber eines habe ich letztlich am Ende des Tages NICHT:

 

Zweifel.

 

Weil ich mich aus vielen Situationen heraus auf meine Entscheidungen verlassen kann. Weil sie meine sind.

Wieviele "Fehler" und vordergründig falsche Entscheidungen habe ich schon getroffen, die mich in solche Situationen überhaupt erst hineingebracht haben? Kann ich nicht mehr zählen.

Ich erscheine mir selbst manchmal etwas orientierungslos und ziellos, aber nur auf den ersten Blick.

Auch ich bin immer bemüht, das sogenannte "Optimum" für mich herauszuholen. Jetzt sicher mehr als früher, aber der Unterschied ist sicher, dass ich zwar immer versuche, das, was das Leben mir schenkt, zu ergreifen...

 

... aber auch mal feststellen darf:

Ich habe mich geirrt.

Es tut mir nicht gut.

Ich ziehe weiter.

Notfalls halt wieder und wieder.
Aber ich bleibe mir treu.

Ich bin vielleicht etwas angeschlagen und trage ein paar Wunden davon, aber ein Lächeln hat das Zähnefletschen, Durchbeißen und Durchboxen abgelöst, und im Gegensatz zu den Monaten zuvor, in denen ich mich selbst auf der glorreichen Strecke des Erfolgs irgendwo verloren habe, weiß ich jetzt:

 

Da bin ich wieder.

 

Und das ist Glück.

 

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Isabella (Dienstag, 14 Januar 2020 10:38)

    Wow, liebe Marlies�
    Bin echt begeistert von deinem ehrlichen und offenen Blog.
    Bleib dir treu und schau auf dich.
    Ich wünsch dir alles Gute
    Isabella

  • #2

    Marlies (Mittwoch, 15 Januar 2020 16:45)

    Liebe Isabella, danke für dein Lob! Das bestärkt mich sehr! :-)
    Auch für dich alles Gute!
    Marlies