Fischlein im Traisenfluss

Das kommt dabei heraus, wenn man sich selbst die Stirnfransen schneidet...
Das kommt dabei heraus, wenn man sich selbst die Stirnfransen schneidet...

Im Laufe eines Lebens begegnen wir so vielen Menschen, die mal mehr, mal weniger ihre Spuren in uns hinterlassen.

Manchmal lesen oder hören wir aber auch nur von ihnen, und wir nehmen Anteil - ein wenig oder auch viel - weil es etwas gab oder gibt, das Eindruck bei uns hinterlässt.

 

Ich war letzte Woche berührt, dass sich doch einige von euch an Alfredo Rampi erinnern, den Jungen, der 1981 in einen Brunnen fiel und das trotz tagelanger Rettungsversuche leider nicht überlebte.

 

Liegt es daran, dass sich solche Ereignisse besonders stark einbrennen, weil wir selbst noch Kinder waren? Darauf habe ich keine Antwort. Der Behauptung, als Erwachsener, der von so etwas hört, sei man zu abgestumpft, um mit ähnlicher Betroffenheit zu reagieren, kann ich nichts abgewinnen.

 

Es gab da noch einen Jungen, und es war ebenfalls das Jahr 1981.

Ich weiß noch, wie ich bei meiner Oma in der Zeitung darüber las.

Romy Schneiders Sohn David, der wie ein Engel aussah, verunfallte beim Klettern über einen Zaun und starb an Blutverlust. Ich war am Boden zerstört.

Ich habe mit niemandem darüber geredet. Ich weiß nicht warum. Vielleicht glaubte ich nicht, dass ein Erwachsener meine Gefühle nachempfinden konnte und mich stattdessen lieber zum Spielen rausschickte.

 

Aber es waren nicht immer nur "ferne" Ereignisse, die mich nicht persönlich betrafen.

 

Als ich in der Volksschule war, kannte ich einen Jungen aus der Nachbarschaft, der mit mir in dieselbe Klasse ging. Auf spielerische Weise "konkurrierten" wir, denn er war ein glänzender Schüler, der sehr gut lesen konnte, und das konnte man damals auch von mir sagen.

Meine letzte Begegnung mit Michi war bei ihm zu Hause, als ich vorbeikam und für ein Abschiedsgeschenk für unseren Lehrer Geld sammelte. Ich erinnere mich noch an seine altkluge und doch sympathische Art, und an seine weißblonden Haare.

Nur wenige Wochen später erkrankte er schwer. Ich weiß nicht, was es war - vielleicht eine Gehirnhautentzündung oder eine schwere Viruserkrankung. Ich sah Michi danach noch einmal - er saß im Rollstuhl, war Tetraplegiker (gelähmt) und geistig schwer beeinträchtigt.

Was aus ihm geworden ist, daran erinnere ich mich nicht. Ich glaube, wir hörten irgendwann, dass er gestorben war.

Damals war es für mich so unfassbar, dass ein so kluges, fröhliches Kind ein solches Schicksal erleiden konnte. Noch heute erinnere ich mich lieber an den Michi "davor".

 

Ein weiterer Junge aus meiner Nachbarschaft gehörte zu unserem Wohnblock-Spielplatz-"Clan". Nur konnte Markus nicht wie wir stundenlang - oder auch nur minutenlang - herumlaufen und sich völlig beim Spielen verausgaben. Bei kleinster Anstrengung wurden seine Lippen blau, denn er war mit einem Loch im Herzen geboren worden. Ich stellte mir damals sein Herz wirklich als "Herz" vor und das Loch tatsächlich als "Loch", als hätte es jemand hineingestanzt.

Markus' Geschichte ging gut aus, denn in einer für damalige Verhältnisse revolutionären Operation wurde das Loch in seinem Herzen zugenäht, und es ging ihm danach erstmals tatsächlich gut. Ich erinnere mich an ein Foto in der Regionalzeitung, das ihn auf einem geschenkten Fahrrad zeigte. Auf seinem Gesicht war ein breites Lächeln... freudestrahlend, voller Glück.

 

Als Kinder erinnern wir uns besonders gut an Schicksale und (schlimme) Ereignisse, und ich glaube, dass auch ich damals lernte, dass wir alle nicht unverwundbar sind.

Bekam ich dadurch Angst? - Ich denke nicht. Diese gedankliche Übertragung zu mir, das war mir damals in diesen jungen Jahren noch zu abstrakt.

 

Genau wie der Tod.

Was ist der Tod?

Was war für mich der Tod?

Außer ebenfalls abstrakt?

 

Ich erinnere mich nicht daran, dass meine Uroma starb... oder Tante Mitzi, in deren Küche ich so oft gesessen, Grießkoch gegessen und mit Plastikfiguren gespielt hatte.

Damals waren sie einfach weg... und ich wohl noch zu klein, um wirklich traurig zu sein.

Damals gab es für mich auch einfach noch keinen Gedanken daran, dass meine Großeltern, meine Eltern oder sonst jemand, der mir nahestand, irgendwann einmal nicht mehr da sein würde.

Wie auch? Sie waren alle noch zu jung.

 

Ich stand als Kind von vielleicht drei oder vier Jahren, in gestrickten Socken - also ohne Gummistiefel (die ich Minuten davor noch getragen hatte) - auf der Geländer-Querstrebe einer Brücke nahe meines Geburtshauses.

Ich beugte mich nach vorn, um einen Blick auf die Fischlein im Traisenfluss werfen zu können, und wenn ich ein Stück größer gewesen wäre oder mich weiter nach vorne gebeugt hätte, hätte ich vielleicht das Gleichgewicht verloren und wäre, Kopf voran, sieben oder acht Meter ins Wasser gestürzt.

So aber stand ich da nur, ohne mich groß zu bewegen, und so fand mich Augenblicke später meine Mutter, der ich aus dem Garten ausgebüxt war und die mich schon verzweifelt überall gesucht hatte.

 

Sekunden und unbewusste Entscheidungen haben darüber entschieden... über den ganzen Verlauf eines Lebens eigentlich - oder dessen Ende.

 

Ich will keine trübe Stimmung verbreiten.

Mir begegnete im Kindesalter - speziell in meiner niederösterreichischen Herzensheimat an der Traisen - noch soviel LEBEN, und es sind genau diese Erinnerungen, die am allerklarsten und allerschärfsten sind.

Ich sehe mich mit verschorften Knien und im schmutzigen Austria Wien-Fußballdress über den Fußballplatz laufen, und wenn da Karli, Reinhold, Alex, Tamara und all die anderen schon auf mich - und meinen supertollen Lederball - warteten und ich noch eine halbe Stunde Zeit hatte, bevor Mutti im 5. Stock das Wohnzimmerfenster öffnen und mich zum Abendessen rufen würde (hoffentlich gab es Fleischlaibchen mit Pürree), dann war meine Welt nicht nur in Ordnung, sondern bunt und glücklich.

 

Der Tod war fern, und das Leben so nah.

 

 


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar von Monika Hartl, Krebshilfe OÖ

 

 

Wege, die sich kreuzen

 

 

„Wie seltsam kreuzen sich doch die Wege des Lebens!“
(Hans Christian Andersen)

 

Wie vielen Menschen begegnen wir im Laufe unseres Lebens?

Wie viele davon haben vorübergehend, oder auch dauerhaft Bedeutung für uns, natürlich abgesehen von der Familie?

Erinnern Sie sich noch an alle Freundinnen und Freunde aus Kindergarten- und Volksschulzeit?

Sicher nicht an alle, aber einige werden Ihnen in Erinnerung geblieben sein, vielleicht ist aus dieser Zeit sogar eine beständige Freundschaft bis in die Gegenwart entstanden. (Ich habe dieses Glück mit meiner Freundin Christine, mit der ich schon fast 50 Jahre befreundet bin.)

Im Laufe des Lebens haben wir auch Wegbegleiter, die uns eine Zeitlang begleiten, also Freund:innen, die wir irgendwann auch wieder aus den Augen verlieren.

Und dann natürlich die besonderen Freundschaften, die irgendwann begonnen haben und ein Leben lang halten.

Sehr oft bleiben einen „dramatische Schicksale“ in Erinnerung, wie Marlies das in ihrem Beitrag beschreibt.

Ich hatte einen sehr lieben Schulkollegen, der mit 11 Jahren beim Schlittenfahren von einem Auto, das von der Straße geschlittert ist – tödlich verletzt wurde.
Ich werde niemals vergessen, wie traurig ich war, als ich davon erfahren habe und wie emotional die Verabschiedung war, bei der wir als gesamte Schulklasse anwesend waren.

Und ich werde auch niemals meinen blondgelockten, fröhlichen Schulkollegen mit seinen strahlend blauen Augen vergessen.

 

Vor wenigen Tagen war Allerheiligen und Allerseelen.
Die Gedenk-Zeit an unsere lieben Verstorbenen.

Wir alle wissen nicht, wie lange unser Leben dauern wird, wir wissen nur, dass es endlich ist.

Warum manche Menschen schwer erkranken, schreckliche Unfälle erleiden oder andere Schicksalsschläge zu bewältigen haben und andere nicht, lässt sich nicht beantworten.

 

Natürlich erleben wir in Beratungsgesprächen immer wieder, dass Krebserkrankte nach dem „Warum“ fragen und nach Ursache und Schuld suchen.

Das ist natürlich verständlich, jedoch wird die Antwort in den meisten Fällen (Ausnahme sind genetische Erkrankungen) unbeantwortet bleiben.

Auch die Frage warum der geliebte Mensch genau zu dieser Zeit genau auf dieser Straße gefahren ist, auf der der rücksichtslose Autofahrer an einer unübersichtlichen Stelle überholt hat, wird unbeantwortet bleiben.

 

„Es ist Schicksal“, „es ist vorherbestimmt“ höre ich manchmal von Betroffenen und das glaube ich manchmal auch selber.

Aber in Wirklichkeit wissen wir es nicht. Wir können uns nur den Herausforderungen stellen, die uns im Laufe unseres Lebens begegnen.

Das sind letztendlich ja auch „Wege, die sich kreuzen.

 

Sehr oft erinnern wir uns an Menschen, denen Dramatisches widerfahren ist.

Aber natürlich erinnern wir uns auch an jene, mit denen wir besonders schöne Erlebnisse geteilt haben, auch wenn es nur kurze Begegnungen waren.
Sie bleiben in unserem Gedächtnis.

Wie lange unser Leben dauern wird, wissen wir nicht.

Jedoch können wir zumindest versuchen, jeden einzelnen Tag unseres Lebens mitzugestalten und das Beste daraus zu machen, natürlich innerhalb des möglichen Rahmens.

 

Ich habe einmal gelesen, dass auf Friedhöfen neben den Namen der Verstorbenen das Geburtsdatum und das Sterbedatum gelesen werden und viel Platz auf dem Grabstein brauchen.

Der kleine Strich zwischen den beiden Daten ist jedoch das Bedeutendste überhaupt, nämlich unser Leben.

„Mein Leben möchte gelebt werden“, sagte einmal eine Patientin zu mir, „egal wie lange es dauert.“
„Ich möchte Erinnerungen schaffen“, meinte ein anderer Patient.

 

Gestalten auch Sie IHR Leben mit, schaffen Sie Erinnerungen, teilen Sie besondere Erlebnisse mit anderen Menschen, die Sie und das gemeinsam Erlebte in Erinnerung behalten werden.

„Wie es laufen wird, das entscheidet womöglich das Schicksal.
 Doch - wie es dir damit geht, entscheidet dein Kopf.“
(Esragül Schönast)

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