Der Junge im Brunnen

"Wie ein Käfig", fährt es mir durch den Kopf, als ich nach dem Folgen eines verschlungenen Pfades am Stadtrand an diesem Eisengitter vorbeikomme.

Da ist auch eine Tür, bestimmt abgesperrt, damit niemand Zugang zu dem Grundstück dahinter hat.

Ich hege auch keine Ambitionen, mir das genauer anzusehen. Ich gehe den Pfad weiter, ohne richtiges Ziel. Versuche nur, nicht allzu weit vom eigentlichen Weg abzukommen und die ungefähre Richtung nicht zu verlieren.

 

In Wahrheit ist das aber längst geschehen.

 

Ich würde euch gerne erzählen, wie sicher mein Schiff durch die derzeitigen unruhigen Gewässer schippert und wie ich - genährt durch meine bisherigen Lebenserfahrungen - sicher und zielstrebig den bevorzugten Hafen ansteuere.

 

Ich würde euch gerne erzählen, dass ich nicht das Gefühl habe, langsam, wie in einem tiefen Brunnen, nach unten zu rutschen und ringsum keinen "Einhakpunkt" für meine Finger zu finden, um das Hinabgleiten aufzuhalten.

Aber die Wände sind derzeit verdammt glatt.

 

Bei dieser Vorstellung muss ich immer an den kleinen italienischen Jungen denken, der Anfang der 80er in einen solchen Schacht gestürzt ist. Die tagelangen, vergeblichen Versuche, den Kleinen zu retten, haben mich - selbst noch ein Kind im beinahe gleichen Alter - sehr verstört und lange Zeit beschäftigt.

 

Es ist Herbst, und es ist wieder diese Zeit des Jahres.

Aber dieses Jahr ist es anders. Rund um mich ist alles anders, und ich spüre eine Bedrohlichkeit auf nicht nur meinen Schultern, sondern auf denen der ganzen Welt lasten, wie es noch nie zuvor der Fall war.

 

Nein, sagt da eine störrische Stimme in mir. Das wollen die nicht lesen. Die wollen die starken, mutmachenden oder auch humorigen Worte einer eloquenten Bloggerin (Bloggers... Bloggers!) lesen.

Niemand will deinen morastigen, runterziehenden Sumpf mitbekommen - nicht die Konsequenz, mit der du dich in letzter Zeit da reinmanövrierst.

Wie sollen denn Krebspatient:innen, Angehörige und auch ganz Unbeteiligte da Mut, Zuversicht und Kurzweil schöpfen, wenn du deinem verdammten Auftrag nicht nachkommst?

 

Aber ... es gibt ihn nun mal auch, diesen Sumpf.

Diesen Brunnen.

Dieses unruhige Gewässer und die absolute Hafenlosigkeit.

Diese schwere, graue Eisengittertür.

Für diesen Moment heute will ich mich nicht verstellen. Ich mache das viel zu häufig.

 

"Ich bin froh, dass es dir derzeit so gut zu gehen scheint."

"Du wirkst so souverän und selbstbewusst."

"Wie geht es dir?" - "Danke, gut. Danke, gut. Danke, gut."

 

Nein, tut es nicht.

 

Ich rutsche in diesem, meinen eigenen Brunnen langsam weiter nach unten.

Ich suche weiter nach dem Einhakpunkt für die Finger, um mich hochzuziehen... wieder rauszuziehen, und irgendwann finde ich ihn.

Ich habe ihn bisher noch jedesmal gefunden.

 

Ich habe schon Schwereres durchgemacht.

Es gab schon viel kritischere, dunklere Zeiten in meinem Leben, mit konkreten Anlässen.

 

Jetzt ist es die Gesamtheit, die Summe, die dunkle Wolke, die sich flächendeckend über alles draufzulegen scheint.

Die die Luft abschnürt und das Herz zum Stolpern bringt, wortwörtlich.

Ich brauche hier und jetzt nicht jammerig aufzuzählen, was "da draußen" alles los ist (ihr wisst das alles), aber all das spielt - neben dem vor allem vergangenheitsbezogenen persönlichen Ballast - eine Rolle.

Hat vieles verändert und auch mich.

 

Es war noch nie so geballt, so langwährend, so "aussichtslos" wie derzeit, und auch ich habe versucht - wie gefühlt 90% der Menschheit - mich mit irgendetwas zu betäuben, um nicht (so frontal) hinsehen zu müssen.

Aber Netflix, Zucker, Langspielplatten, Arbeit, der Blick auf irgendein Display sind eben nur für den schnellen Kick gut.

 

Zu allem anderen... dem, was wirklich gut tut... was wirklich Körper, Geist und Seele nährt und stärkt - und mich nebenbei mit mir selbst konfrontiert - da komme ich momentan auf keinen grünen Zweig. Im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Es ist, wie es ist.

Ich tu' mir nicht selber leid (zumindest versuche ich es), ich nehme das erst mal so hin, versuche es zu akzeptieren. Das Gegenteil kann ich ohnehin nicht erzwingen.

 

Ich möchte nicht mehr der Schwamm sein, der alles da draußen aufsaugt, ohne in Wahrheit dafür gewappnet zu sein. Die Abgrenzung fällt mir sehr schwer, und ich glaube, dass es ganz vielen auch so ergeht... aber dass viele auch ganz schnell wegsehen. Zu Netflix, Zucker & Co. eben.

 

"Du hast schon sovieles im Leben geschafft", hat mir mal jemand gesagt, und es klang beinahe vorwurfsvoll.

Als wäre das Überwinden einer Krebserkrankung die Garantie dafür, dass man künftig unerschütterlich bleibt und einem nichts mehr die Füße weghauen kann.

 

Der Krebs hat mir zweifellos bei vielem geholfen, aber die Wände des Brunnens hat er nicht von der Glattheit befreien können.

Ich habe nicht mit einem Fingerschnippen gelernt, mühelos auf der Klaviatur des Lebens zu spielen und von einem Erweckungserlebnis zum anderen zu taumeln.

Vielleicht habe ich gelernt, genauer hinzusehen ... und das ist nicht immer gut.

 

Ich kann nicht gut um Hilfe bitten. Oder auch nur "etwas sagen".

Genauer gesagt, ich habe es verlernt.

Ich ziehe mich eher zurück, als zielstrebig dafür zu sorgen, dass mir etwas oder jemand helfen oder zumindest davon erfahren kann.

Ich versuche es vielleicht einmal, zweimal... zaghaft... aber dann nicht mehr.

Ich denke, dass jeder selbst beschäftigt ist, mit so vielem. Mit Displays vor dem Gesicht, mit den eigenen Dämonen, mit der eigenen Glücksblase (die auch scheuklappig-blind machen kann)... und vor allem habe ich, denke ich, Angst vor Zurückweisung.

Davor, nicht ernst genommen zu werden. Oder davor, dass es zu mühsam ist... dieses Hinter-die-Fassade-blicken.

Und davor - das fällt mir am schwersten, das zuzugeben - nicht gemocht zu werden. Nicht geliebt zu werden.

 

Ich hätte nie gedacht, dass ich mir einen Panzer wachsen lassen kann. Aber ich kann.

Das Schlimme ist vielleicht, dass ich das "Licht am Horizont", das das ändern könnte, derzeit einfach nicht sehe.

Wieder denke ich.... das geht nicht nur mir so. Eigentlich weiß ich das sogar.

Aber die Menschen reagieren auf Ähnliches ganz unterschiedlich. Mit "Frohsinn"... mit Aggression... mit Ich-Bezogenheit ... mit Wegsehen und vielem mehr.

 

Mit Worten, da bin ich gut.

Von dem, was ich in die Tastatur klopfen kann, kann man sagen: Da hab' ich's drauf.

Ich bekomme diese Rückmeldungen oft, und natürlich freue ich mich darüber auch.

Aber manchmal wünschte ich mir, mehr als "das" zu sein, was die "Außenwelt" von mir hier mitzubekommen scheint.

 

Der kleine italienische Junge ist 1981 in dem Brunnen gestorben.

Es ist kein Vergleich... er ist damals beim Spielen und versehentlich hineingestürzt, aber dennoch dachte ich schon mit meinen damaligen acht Jahren oft daran, wie allein und verzweifelt er sich gefühlt haben muss, alleine da unten.

 

Ich werde in "meinem" Schacht nicht sterben.

Irgendwann finde ich den Einhakpunkt und dann ziehe ich mich mit splitternden Fingernägeln und unter Aufbietung aller Kräfte wieder heraus. Vorübergehend oder endgültig.

Vielleicht habe ich dann etwas gelernt... über mich, über die Welt, über das Leben.

Vielleicht war es aber auch einfach nur Mühsal und ich bin wütend auf mich, der doch nicht so heilsbringende Superheld zu sein.

Held. Nicht Heldin. (Auch das ist ein Stück Schwerkraft im Brunnen... diese Un-Sichtbarkeit.)

 

 

Jetzt mache ich mal etwas Neues, damit nicht nur Monika im "Blitzlicht" immer eine schöne Weisheit, einen schönen Spruch am Ende ihres Beitrages bringt.

Ich bringe meinen eigenen, den ich - wohl nicht zufällig - heute, an eine Mauer gesprüht, entdeckte:

 

 

"Am Ende wird alles gut.

Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende."

(Fernando Sabino)

 

 

 

Es ist noch lange nicht das Ende. Soviel kann ich sagen.

 

 


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar von Monika Hartl, Krebshilfe OÖ

 

 

„Wie geht es dir?“
„Danke, nicht gut!“

 

 

Weil „traurig“, „depressiv“ und „schlecht“
so lange Wörter sind,
schreiben wir einfach „gut“.
Und jeder glaubt’s.
(Quelle: https://www.spruch-archiv.com/tags/Maskenspiel/?sid=64c314a0534a2405aa985a45d6758670)

 

 

Auf die Nachfrage, wie es einem geht, antworten die meisten mit „Danke gut“!

Auch dann, wenn das im Moment gar nicht zutrifft.
Warum?

Einerseits weil man andere nicht mit den eigenen Sorgen belasten möchte, oder natürlich nicht jedem mitteilen möchte und andererseits weil man vielleicht nicht den nach außen getragenen „Mir-geht-es-gut-Mantel“ ablegen möchte, bzw. es sich manchmal gar nicht selber eingestehen kann, dass es eben nicht so ist.

 

Heute hatte ich ein Gespräch mit einer ehemaligen Krebspatientin (sie ist geheilt und befindet sich in der sogenannten Nachsorge).

Sie hat mir geschildert wie erschöpft sie immer noch ist, wie schwer ihr ein normaler Alltag fällt, geschweige denn der Gedanke daran, wieder ins Arbeitsleben einzusteigen.
Dafür reicht weder ihrer körperliche noch ihre psychische Kraft aus.

Ihr Umfeld versteht das nicht.
„Sie schaut ja wieder gut aus, die Therapie ist doch abgeschlossen, sie hat ja jeden Tag Zeit für einen Spaziergang,…..“
Das sind Aussagen von Nachbarn, Bekannten, ehemaligen Arbeitskolleg:innen.

„Ich befinde mich in einer Falle und komme da nicht heraus, ich fühle mich so halb!“, hat sie mir sehr verzweifelt geschildert.

„Nichts ist wie vorher, aber ich weiß auch, dass ich viel geschafft habe und bin dankbar, dass es mir wieder so gut geht.“

„So gut geht?“

 

Was bedeutet das?

Es geht jemanden so gut/schlecht, wie er/sie sich im Moment gerade fühlt.

Das stimmt nicht immer mit der Wahrnehmung von anderen überein.

Also gut aussehen heißt nicht gleichzeitig gut fühlen.

 

Das ist eh klar, werden Sie jetzt denken.

Ja, aber….

 

Ja aber,….weil von Betroffenen nach einer Krisensituation erwartet wird, dass sie sich wieder erholen, dass „ES“ wieder normal wird.
Erwartet von Familie, Freunden, Bekannten, Arbeitskolleg:innen, Nachbarn, also eben vom Umfeld.

Aber nicht nur das Umfeld hat Erwartungshaltungen sondern auch die Betroffenen haben Erwartungshaltungen an sich selbst.
„Das kann ja nicht sein!“, „Das ist doch nicht mehr normal“, „Das müsste doch schon längst wieder funktionieren“, „Mit mir kann man nichts mehr anfangen und ich bin zu nichts zu gebrauchen!“, usw.


„Normal“ wird oft mit „wie früher“ gleichgestellt.

So wie früher ist es aber nicht mehr.

Und wie ist das, wenn man es geschafft hat, eine Krebserkrankung „zu besiegen“, wieder gesund zu werden und zu bleiben?

Bedeutet das dann, dass man ja sowieso alles schaffen kann, nachdem man diese Herausforderung bewältigt hat?
Oder kann es trotzdem passieren, dass man – so wie Marlies das diese Woche in ihrem Blog so ehrlich und ungeschminkt/unplugged („unblogged“) beschreibt – in einen Brunnen fällt und - warum auch immer –  nicht die Kraft findet, wieder herauszuklettern?

 

In einem Beratungsgespräch würde ich jetzt aufmerksam machen, dass es hilfreich ist daran zu denken, dass es jetzt im Moment so ist.

Also „Derzeit habe ich nicht die Kraft…“ und nicht „Ich habe keine Kraft mehr….“

 

Dieses „derzeit“ nimmt Druck heraus und lässt Platz für Hoffnung und Zuversicht.

Hoffnung und Zuversicht, dass man Strategien entwickelt, dass man wieder Kraft schöpft und somit auch wieder den Weg aus dem Brunnen findet.
Nach einer gewissen Zeit….
Aber auch Hoffnung und Zuversicht, dass es Menschen gibt, die dabei helfen werden.

Und zwar vor allem dann, wenn ich mich traue, ehrlich zu sagen wie es mir geht, ehrlich zu sagen, dass man Hilfe braucht und diese auch annehmen möchte.

 

 

„Wie geht es dir?“
Danke, dass du fragst, im Moment geht es mir gar nicht gut und ich könnte Hilfe gebrauchen!“


Und ja, das kann guttun. Das wird guttun, befreiend wirken.
Endlich die Maske fallen zu lassen und zu sagen wie es wirklich ist, und nicht wie man es gerne hätte.

Und somit andere darüber zu informieren, was von außen oft nicht sichtbar ist. (Weil man gesund ausschaut, eh schon so viel geschafft hat, wieder arbeitet, wieder funktioniert,…)

 

„Es geht mir im Moment nicht gut!“
Können Sie sich vorstellen, diesen Satz selbst ehrlich auszusprechen und können Sie sich vorstellen, das von jemand anderem zu hören?

 

Wenn ja, ist das gut.

Trauen Sie sich ehrlich zu sein, sich selbst so anzunehmen, wie Sie im Moment sind und sich selbst auch den anderen so zuzumuten.
Und trauen Sie sich auch zu mit der Ehrlichkeit – und dem „Nichtgutgehen“ anderer - zurechtzukommen, auch wenn die Antwort unerwartet kommt.

Und haben Sie Vertrauen, dass es gut werden kann, auch wenn nicht immer sofort eine Lösung (oder ein Einhakpunkt) greifbar ist.
Ehrlich, unplugged, füreinander, miteinander.

 

 

Es wird alles wieder gut werden!
Dieses Wort ist ein Zauberspruch. Überall im Leben ist ein steter Wechsel von Schatten und Licht, und jedes Übel bringt uns neue Anwartschaft auf Gutes; wer diesem Guten entgegenhofft, der genießt schon im vorhinein die Zinsen eines noch nicht fälligen Kapitals.

Peter Rosegger

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