Quergrätscher

Es gibt Zeiten, da denkt man:

Ich bin unverwundbar.

Ich bin jung, ich habe Kraft, ich bin wendig, reaktionsschnell und kann ein Spiel lesen.

 

Moment... wovon reden wir hier gerade?

Ich brauche nur meinen Blick zur Seite zu wenden - zum laufenden Fernseher.

Die österreichische Nationalmannschaft steht vor einem wichtigen Nations League-Spiel.

Fußball also.

 

Fußball war immer schon ein Teil meines Lebens. Irgendwie.

Zumindest wenn es darum ging, Fußballpickerl zu sammeln.

Es war 1982, die Fußball-WM wurde in Spanien ausgetragen, das Maskottchen war eine Orange auf zwei Beinen im Trikot.

Ich hatte keine wirkliche Ahnung vom Kicken, auch wenn wir Kinder natürlich unsere Zeit auf dem Siedlungs-"Sportplatz" verbrachten. Regeln gab es da freilich keine, und du warst entweder Rapidler oder Austrianer. Hans Krankl oder Toni Polster.

Da ich regelmäßig die scharf geschossenen Bälle der größeren Kinder mitten ins Gesicht bekam, war mir das Sammeln der WM-Sticker letztlich lieber. Auch wenn ich nur einen Bruchteil des Albums vollbekam.

(Heute sammle ich übrigens wieder... gemeinsam mit meinem zehnjährigen Neffen. Dafür ist man doch nie zu alt... oder?)

 

Nach meinen schönsten Kinderjahren in meiner Heimatstadt, und als wir dann umgezogen waren, juckte mich Fußball überhaupt nicht mehr. Ich beschäftigte mich stattdessen mit unseren Schäferhunden, unserem Amiga-Computer, meiner wachsenden Plattensammlung und vielen Bravo-Heften.

Dann wurde ich erwachsen, ging in ein anderes Bundesland, arbeitete und trieb mich des Nächtens herum, um Leute zu treffen. Ganz normale Entwicklung also.

 

Ende der 90er ging ich eine Beziehung mit einer Frau ein, die - nennen wir es so (und ich meine das gewiss nicht negativ) - fußballverrückt war. Sie spielte nicht nur selbst seit vielen Jahren in einem Frauenfußballverein (Bundesliga), sondern kannte sich auch gut bei den Männern (österreichische und vor allem deutsche Bundesliga) aus.

 

Irgendwie wuchs ich da rein, und das ziemlich schnell. Ich stand anfeuernd am Spielfeldrand, litt mit ihr mit, als sie sich nach einem Fallrückzieher die Hand brach (was mit einer Platte und sechs Schrauben gerichtet werden musste), und natürlich saßen wir Samstag abends mitfiebernd vor dem Fernseher, um die Zusammenfassungen der deutschen Spiele anzusehen.

Es dauerte nicht lange und ich kannte mich besser aus als meine Freundin, wusste welcher Spieler bei welchem Verein seit wann spielte, und bei "FIFA 98" auf der Playstation war ich sowieso unschlagbar.

 

Und dann... mit 27 Jahren und in der "Blüte meiner Jahre" zog ich mir überdimensionierte Handschuhe an, schnürte Stollenschuhe und ging ins Tor.

Wahrscheinlich war dieser Weg einfach vorgezeichnet gewesen, mit diesem gewachsenen Interesse (nein, streicht das Interesse - es war meine typische Begeisterungsfähigkeit und außerdem Leidenschaft) und mit der Eigeneinschätzung:

Ich bin unzerstörbar.

Unverwundbar.

Ich bin ein Kraftpaket.

 

Das musste ich auch sein, als Torfrau.

Und das war ich erst mal genau NICHT.

Ich war nicht sportlich (eigentlich nie gewesen), hatte dementsprechend wenig Kondition, und mit so Ausdrücken wie "Reaktionsfähigkeit" und "Antrittsschnelligkeit" hatte ich mich bisher nie befasst (außer bei FIFA 98 am Spielcontroller).

 

Mein Torwarttrainer beäugte mich etwas skeptisch, als ich zum ersten Training erschien, wobei er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Vermutlich hat er aber ziemlich schnell gemerkt, dass er da einen ganzen Haufen Arbeit vor sich hatte.

Nichtsdestotrotz machte ich relativ schnell Fortschritte. Ich lief Runden um den Fußballplatz, parierte vom Trainer geschossene Bälle und sprang Hauswände hoch (nicht an den Wänden selbst, aber zumindest in Richtung Regenrinne unter dem Dach).

Ich hatte Knieschoner, eine gepolsterte Hose und fühlte mich mit meinen überdimensionalen Handschuhgriffeln megacool.

 

Ich warf mich in den Dreck, rappelte mich auf (der Trainer trieb mich pausenlos an), schmiss mich wieder der Länge nach hin und machte mich so lang, wie es ging, um mit den Fingerspitzen die Bälle zu erreichen.

Ich fraß Gras, Erde, biss mir die Zunge und die Lippen blutig, schlitzte mir mit meinen metallenen Stollen die Schenkelinnenseiten auf, schürfte mir alles an Gelenken auf, was es gab, bog mir die Finger um und bekam die "Kugel" beim ersten Trainingsspiel mit voller Wucht an den Kehlkopf.

 

Meine Lunge brannte wie Feuer, ich verschluckte mich an meinem Atem oder Speichel und manchmal ächzten meine Bänder und Sehnen vor Überlastung.

Und trotzdem hatte ich mich noch nie so lebendig, so kraftvoll, so unverwundbar und unbesiegbar gefühlt.

 

Ich spielte Regionalliga, und in der kurzen Zeit meiner Fußballkarriere hütete ich zumindest ein paar Spiele lang den Kasten.

Ich machte meine Sache gar nicht so schlecht.

Ich erinnere mich noch gut, wie eine gegnerische Stürmerin, mit dem Ball vor sich, das kurze Eck ansteuerte.

"AUSSA!" brüllte die Trainerin, aber diese Aufforderung hätte ich nicht gebraucht - ich war längst unterwegs.

Mit einem Satz sperrte ich der Spielerin den Weg ab und grätschte mit einer behänden Bewegung den Ball weg.

"SEHR GUT!" schrie die Trainerin begeistert, und ich war ganz ihrer Meinung und wohl um ein paar Zentimeter gewachsen, vor lauter Stolz.

Andere Paraden gelangen mir wiederum weniger gut - da machte sich dann doch mein Anfängertum bemerkbar.

 

Nach insgesamt vielleicht eineinhalb Jahren ließ ich meine Kicker-Laufbahn ausklingen. Nach einer eher leichten Verletzung schaffte ich es nicht mehr so recht, die 2x Training in der Woche durchzuziehen, und schließlich schied ich aus. (Ca. 2 Jahre später "schied" ich auch aus meiner Beziehung aus, aber das hatte damit nichts zu tun.)

 

Was war geblieben?

Wohl zum ersten Mal das Gefühl, dass ich alles schaffen kann, was ich mir vornehme.

Mit 27 Jahren zum ersten Mal Vereinsfußball spielen? - Warum nicht?

Die brachliegende Kondition nach und nach aufboostern und schließlich Kraft, Reaktion und Schnelligkeit zeigen können? - Geht.

Ich hatte ja als Kind und Jugendliche Schulsport mitgemacht, aber ich wusste erst auf dem Fußballplatz zum ersten Mal wirklich, was Muskelkater bedeutete.

Es tat weh... es war anstrengend... ich musste mich oft überwinden... aber ich "biss hinein", zeigte Ausdauer und Ehrgeiz.

 

Ja, es hätte etwas "werden" können aus mir. Vielleicht wäre irgendwann mal Landesliga draus geworden. Vielleicht hätte ich mir einen Namen gemacht.

Habe ich nicht.

Macht aber nichts.

Ich habe einige Monate lang einen kleinen "Traum" gelebt. Keinen von einer tatsächlichen Karriere, sondern dass ich wirklich etwas zustande bringen kann, wenn ich mich nur ganz intensiv darum bemühe.

Diese Erfahrung würde ich dann auch noch öfter machen (zum Beispiel wenige Jahre später, als ich eine Zeitlang intensives Lauftraining absolvierte).

 

Wieder blicke ich zur Seite, zum Fernseher. Es steht gerade 1:1... Österreich hat gerade ausgeglichen.

Es juckt mich nicht mehr in den Füßen. Mir ist schon klar, dass ich meine fast 50-jährigen "osteopenösen" (=Vorstufe Osteoporose) Knochen nicht mehr gerne hinhalten würde, wenn da wieder so ein scharfer Ball angeschossen kommt.

Ich würde wieder Gras und Dreck fressen - zehn Mal so viel, weil ich auch zehn Mal so lange brauchen würde, um meinen geschundenen K̶a̶d̶a̶v̶e̶r̶ Körper wieder aus der Torecke hochzuhieven.

Ich wäre weder schnell, noch behände, noch irgendwie cool oder - wie sagt man doch heute? - woke.

 

Das ist schon okay.

Ich muss keinen Träumen mehr hinterherjagen, die ich in dieser Hinsicht ohnehin nicht mehr habe.

Ich WAR Vereinsfußballerin, und darauf bin ich stolz (und hey - das machte bei meinem fußballverrückten Neffen durchaus großen Eindruck).

 

Mehr als zehn, zwölf Jahre vor dem großen Krebs-SuperGAU habe ich also meinen Körper zum ersten Mal richtig gefordert und ihm alles abverlangt.

Ich möchte sagen, das war ein gutes "Training" für alles, was später kam.

"Gras und Dreck fressen", mich "aufschlitzen" (lassen), ein paar draufkriegen und noch mehr - ich übte schon mal.

Beim ersten Mal habe ich es geschafft... beim zweiten Mal auch.

 

Was auch immer da auch noch auf mich zustürmen will, um mir eins draufzuklopfen - eins ist gewiss:

 

Da grätsch ich weiter quer.

 

 


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar von Monika Hartl, Krebshilfe OÖ

 

 

Stärke

 

If I can learn to do it
If he can learn to do it
You can learn to do it!
You can learn to do it
Pull yourself together
And you'll pull through it!
Tell yourself it's easy
And it's true!
You can learn to do it too!
(Lied von Kelsey Grammer und Liz Callaway)

 

Wir alle haben unsere Stärken und Schwächen, unsere Begabungen und Talente.
Vieles kann man lernen, üben und trainieren bis man richtig gut darin ist. („Kein Meister ist vom Himmel gefallen“)
Im Idealfall können wir unsere Begabungen beruflich einsetzen und auch als Hobby in der Freizeitgestaltung nutzen, wie z. B Sport, ein Musikinstrument spielen, singen, tanzen, usw.

Ausprobieren, kennenlernen, lernen, trainieren, üben, selektieren, Bewährtes beibehalten, nicht Funktionierendes ändern, Neues ausprobieren, usw….
Das begleitet uns unser ganzes Leben lang.
Wir können lernen, so lange wir leben.
Natürlich kann nicht jeder z.B. ein Tennisprofi oder ein begnadeter Schauspieler werden, dies jedoch aber als Hobby betreiben, wenn es Spaß macht.

Gibt es auch eine „Begabung“, ein „Talent“, um gut mit Krisen umzugehen?
Und wenn man darin gar nicht „begabt“ ist, kann man das dann lernen?

Wie ist das nach einer Krebsdiagnose?

„Ich muss jetzt stark sein.“
„Du bist eh so stark.“
„Du schaffst das!“

 

Solche Gedanken/Sätze haben bzw. hören Krebspatient:innen sehr oft.

Aber woher die Kraft und Stärke nehmen? Jeden Tag auf’s Neue, oft über einen sehr langen Zeitraum?

Und was heißt überhaupt stark sein?

Nach einer Krebsdiagnose ist es völlig normal, sich vorerst total überfordert und vielleicht auch handlungsunfähig zu fühlen.
Wir Menschen sind Individuen und so individuell sind auch die Reaktionen auf „schlechte Nachrichten“, Schicksalsschläge, Diagnosen und Stressoren.

Viele Betroffene entwickeln ungeahnte Kräfte und sind oftmals über sich selbst erstaunt und überrascht, weil sich das gar nicht zugetraut haben.

Die meisten Betroffenen brauchen anfangs einige Zeit, sich auf die neue Situation einzustellen und haben dann auch gute und hilfreiche Lösungsstrategien.

Manche Betroffene verlieren das Gefühl der Überforderung und Hilflosigkeit nur sehr selten und nehmen gerne Hilfe und Unterstützung von anderen in Anspruch.

Egal, zu welcher Gruppe Sie gehören – glauben Sie an sich und ihre inneren Kräfte, nutzen Sie auch die Hilfe von Familie und Freunden und nehmen Sie natürlich auch professionelle Beratung in Anspruch.
Tun Sie das, was Ihnen guttut und nutzen Sie jede Unterstützung, die hilfreich für Sie ist.

 

„Niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er sie versucht hat.“
(Johann Wolfgang von Goethe)

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