Die Cherubim Hymne vom Flüggewerden

Die Blätter fallen.

Nein, das stimmt nicht ganz.

Sie verfärben sich aber immerhin.

Der Wind ist kühl, und es regnet schon den ganzen Tag.

Ich nippe an meinem Ingwer-Zitrone-Tee und versinke ganz in meiner Hintergrund-Musik, einem bekannten Sakralmusik-Werk ("Stabat Mater" / Pergolesi).

 

...Okay, jetzt denkt ihr entweder mit einem raschen Blick auf die Adresszeile, ob ihr im falschen Blog gelandet seid, oder ihr denkt euch, die gewiefte Autoren-Person persifliert oder will euch veräppeln.

Aber nein - jedes Wort ist wahr.

Und warum?

 

Es ist ganz einfach September.

 

Keine Sorge, es kommt nicht die drölfzigste Abhandlung über die Vergänglichkeit des Sommers und dem Einzughalten der kühlen, schwermütigen Jahreszeit.

Bei mir haben die 30 Septembertage vielmehr damit zu tun, dass mein Verhältnis zu ihnen gespalten ist.

Der September ist mein "Diagnose-Monat", und das ist jetzt...

... 10 Jahre her.

 

Ja, unglaublich, oder?

Heute, an dem Tag, an dem ihr dies lest - dem 20. September - hat sich vor einer ganzen Dekade mein Leben grundlegend verändert.

Auch das muss ich jetzt nicht in schwülstig-wiederkäuender Weise ausbreiten. Wer den Blog regelmäßig liest, weiß ja um die Hintergründe und Entwicklungen.

 

Dennoch muss ich heute über dieses "Jubiläum" schreiben, denn etwas wirft seine Schatten voraus, das nächstes Jahr zu einem großen Thema wird:

 

Ich werde flügge.

 

Das sind übrigens nicht meine Worte, sondern die meiner Onkologin, und sie sagte sie vor wenigen Tagen zu mir, als ich wieder einmal zur Nachsorge bei ihr im Krankenhaus war.

Mein Krankenhaus... mein Sicherheitsnetz seit zehn Jahren. Therapie reihte sich - vor allem am Anfang - an Therapie, und auch wenn die Abstände länger wurden, so landete ich doch immer wieder, und das gar nicht so ungern, am sicheren Hafen der Kontrolle und der Pläne ("So machen wir weiter...").

 

Nun aber verkündete Frau Dr. H., dass es nicht mehr weiter geht.

Das bedeutet gewissermaßen, dass ich ihre Hand nicht länger brauchen, sondern beginnen solle, selbst zu laufen.

Oder mit dem Fahrrad zu fahren - ohne Stützräder.

Oder erwachsen werden... und ausziehen.

 

Gut, das wusste ich, dass das kommt.... meine Antihormontherapie dauert zehn Jahre, und im nächsten Frühling ist diese Zeit vollendet.

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich mir bisher auch nicht viele Gedanken gemacht, was danach kommt.

Irgendetwas würde es schon geben... andere Tabletten oder irgendein verändertes Kontrollschema.

Das Netz würde etwas loser geknüpft sein, aber doch sicher nicht weggezogen werden.

Oder?

 

"Einmal sehen wir uns jetzt noch im März zur nächsten Kontrolle mit Ultraschall."

Wie jetzt?

"Dann ist auch die antihormonelle Therapie beendet."

Ja, aber....

Jetzt sage ich auch endlich was.

"Das heißt, ich nehme dann nichts mehr?"

"Nein."

"Kontrollen halbjährlich?"

"Nein, jährlich."

"Hier?"

"Nein."

Nein?

 

Was hier jetzt so dramatisch erzählt wird, war eigentlich ein normales Gespräch, das für mich ja auch nicht überraschend kam ... aber es so deutlich aus dem Mund meiner mir vertrauten Onkologin zu hören, war dann dennoch irgendwie seltsam.

Es war wahr... ich würde flügge werden.
Ihre Worte... und dabei umspielte ein Lächeln ihren Mundwinkel.

 

Ich weiß, es ist gut so.

Es ist mehr, als ich mir hätte erträumen mögen, damals im September vor zehn Jahren, als ich nach den Hammerschlag-Diagnosen nicht einmal darüber nachdenken konnte oder wollte, ob ich das überhaupt überleben kann.

Zehn Jahre.... das war für mich eine Ewigkeit, und es zeugt nicht von mangelndem Optimismus, wenn man in so einer Situation denkt: Bin ich dann überhaupt noch da? Ich halte es eher für normal, dass solche Gedanken kommen (und auch wieder gehen).

 

Ich bin nicht unglücklich - um Gottes willen.

Ich habe zehn Jahre geschafft, ich habe vieles - nicht alles - zum Besseren bewegen können. Habe gelernt, mich selbst wichtig(er) zu nehmen, auf mich zu achten und meine eigenen Bedürfnisse wertzuschätzen.

Meine Aussichten in gesundheitlicher Hinsicht sind - klopf, klopf, klopf - gut.

Das konnten und können nicht alle sagen.

Ich selbst erlebte mit, wie andere gingen, und das hat Spuren hinterlassen.

 

Trotzdem - oder vielleicht deshalb - reiße ich jetzt nicht die Arme in die Höhe und brülle "YEAH!"

Obwohl ich es könnte.

Und auch dürfte.

 

Ich werde flügge.

Das ist ein komisches Gefühl, das ich nur sehr schwer beschreiben kann.

 

Ein bisschen vergleichbar ist es mit damals, ca. ein Jahr nach der Akuttherapie, als meine Herceptin-Infusionen abgesetzt wurden.

Fast 12 Monate lang hing ich alle 3 Wochen am Tropf, damals.

Weil mein Tumor "Her2neu positiv" gewesen war und dadurch eine bestimmte Eigenschaft aufgewiesen hatte.

Ich erhielt prophylaktisch oder auch begleitend eine regelmäßige Antikörpertherapie.

Nachdem diese beendet wurde, fiel ich in ein Unsicherheitsloch, aus dem ich mich erst nach einiger Zeit wieder selbst herausziehen konnte.

Diese 3 Wochen - mal mit Blutkontrolle, mal ohne, noch dazu im vertrauten "Chemoraum" - waren mir zur fast schon liebgewonnenen und "sicheren" Routine geworden.

Diese fehlte nun plötzlich, was Angst auslöste.

 

Nächsten Frühling werde ich flügge.

Dann wird mir die Antihormontherapie "genommen" und die Krankenhaustüren bleiben mir "verschlossen".

 

Und jetzt weniger melodramatisch:

 

Ich werde mich abnabeln.

Nach langer unterstützter Begleitung mit immer größeren zeitlichen Abständen lasse ich die "Krankenhaus-Hand" los und versuche es auf eigenen Beinen.

Nein, ich versuche es nicht nur - ich werde gehen. Einen Schritt nach dem anderen.

 

Es wird seltsam sein.

Ich werde mich unsicher fühlen, anfangs.

Im Grunde ändert sich aber nicht viel. Ich werde weiter Ultraschalluntersuchungen der Brustwand und Axilla haben - einmal jährlich, genau wie im Spital.

Aber es wird "extern" sein, was vor allem zu Beginn ungewohnt sein wird. (Warum fummelt da jetzt plötzlich jemand Fremder mit dem Schallkopf an meiner Brust herum?)

 

Dennoch wird es Zeit.

Keine "Medikamenten-Krücke" mehr, und dadurch auch (vielleicht) keine Schweißausbrüche, Gelenkbeschwerden, Stimmungsschwankungen etc. mehr.

Nicht mehr am Abend daran denken müssen: Ich muss die Tablette noch nehmen.

 

Und das Krankenhaus... nun ja.

"Wenn Sie irgendetwas brauchen, können Sie sich jederzeit melden", sagte meine Onkologin aber auch noch.

Ein Angebot, das ich hoffentlich nicht annehmen muss.

 

Es wird sogar etwas schmerzlich sein, mich von ihr zu verabschieden. Sie war ein wichtiger Teil meines Genesungsprozesses - nicht nur aufgrund der Entscheidungen, die sie in medizinischer Hinsicht für mich getroffen hat.

Ihre Hand muss ich loslassen.

 

Darf ich loslassen.

 

Mein Tee ist mittlerweile nur noch lauwarm, und das Wetter hat sich nicht gebessert.

Außerdem ist immer noch September. Noch eine Weile lang.

Ich muss lächeln, fällt mir doch gerade ein, was Frau Dr. H. nach dem Abtasten meiner Brustnarben und meiner Achseln noch sagte.

 

"Passt alles. Ich habe nichts auszusetzen."

 

Wär ja auch noch schöner gewesen. :-)

 

 

 

P.S.:

Nochmal zurück zum ersten geschriebenen Absatz - falls sich jemand beim Wort "Sakralmusik-Werk" verschluckt hat:

Ich oute mich hier und jetzt.

Ich höre unheimlich gerne klassische Musik (in den letzten ein, zwei Jahren immer mehr) und ganz besonders sakrale Musik, also religiöse bzw. geistliche Werke (vor allem Choralwerke).

Wie ich da hineingerutscht bin, weiß ich nicht mehr genau. Ich begann mich jedenfalls immer mehr dafür zu interessieren.

Wer mich kennt, weiß um meine Affinität zu "extrem wüster Gitarrenmusik", aber meine zunehmende Liebe gilt auch der Musik von Tchaikovsky, Bach, Händel, Allegri, Fauré oder Pergolesi.

Wenn ich sie höre, umhüllt mich ein wärmender schützender Mantel von außen, und innen berührt sie mich auf eine Weise, wie das ein "Yeah!"-gröhlender Metallica-Frontmann nicht hinkriegt.

Das ist Musik auch für den September...

 

Meine (derzeitige) Top 3:

 

1. Stabat Mater / Giavanni Battista Pergolesi (gesungen von Ph. Jaroussky und E. Barath)

https://www.youtube.com/watch?v=TUVWcvJ2lNg

 

2. Miserere / Gregorio Allegri (gesungen vom Choir of Westminster Cathedral, unter der Leitung von Stephen Cleobury)

https://www.youtube.com/watch?v=FXz3q4B75RQ

 

3. Liturgy of St. John Chrysostom Op. 41: Hymn of the Cherubim / P. I. Tchaikovsky (gesungen vom National Academic Choir of Ukraine 'Dumka')

https://www.youtube.com/watch?v=h2B-Fn1TWLc

 

 


BLITZLICHT - der wöchentliche Kommentar von Monika Hartl, Krebshilfe OÖ

 

 

Frei wie ein Vogel

 

Nach einer Krebsdiagnose fühlen sich viele Betroffene wie in einem fremden Land.

Ein Land, in das sie nie reisen wollten, ein Land, in dem sie sich anfangs nicht zurechtfinden, in dem sie die Sprache nicht verstehen, nicht wissen an wen sie sich wenden können, wer wofür zuständig ist und sie wissen auch nicht, wie lange der Aufenthalt dauern wird.

Dazu kommt die Tatsache, dass während dieser Zeit anfangs der „normale“ Alltag nicht so stattfinden kann, wie man es davor gewohnt war.

Das Leben steht „Kopf“.
Eine Krebsdiagnose bedeutet viel Neues zu lernen und kennenzulernen, ob man nun möchte oder nicht.
Medizinische Begriffe, Untersuchungsmethoden, Warten auf Befundbesprechungen, Krankenhausaufenthalte, Ärztinnen und Ärzte, Medikamente, Operationen, Nebenwirkungen, vielleicht Haarausfall und Perücke, Krankenstand, und Vieles mehr.

Dazu kommen sehr viele Ängste und Sorgen, Hilflosigkeit, Unsicherheit und das Gefühl der Handlungsunfähigkeit.

„Fühlen Sie sich gut aufgehoben in „Ihrem“ Krankenhaus?
Haben Sie Vertrauen in Ihr Behandlungsteam?“
„Gibt es Menschen, dir für Sie da sind?“
Gut, wenn Betroffene diese Fragen bejahen können.
Das heißt, sich in Behandlung zu befinden, begleitet zu werden und im Idealfall Ansprechpartner für Fragen zu haben.

Das bedeutet auch, sich nicht alleine zu fühlen, nicht alleine durch diese schwere Zeit gehen zu müssen.

 Wer Marlies‘ Blog und in Folge auch das Blitzlicht der Krebshilfe liest, kennt die folgenden Sätze:

 

Vertrauen hilft.

Vertrauen in das Krankenhaus, das Behandlungsteam, die Therapien, die Nachsorgeplanung und alles was damit zu tun hat.

Und natürlich Vertrauen in sich selbst. Vertrauen, die Kraft zu haben, Schritt für Schritt den Weg zu gehen, der nötig ist.

So lästig und nervig mit der Zeit die ständigen Untersuchungen, Termine, Wartezeiten, Krankenhaus- und Arztbesuche, Therapien und Medikamente auch sind, so sind sie doch auch für viele Betroffene ein „Stück Sicherheit“.

Manchmal sind nach Operation und vielleicht anschließender Strahlen- oder Chemotherapie die notwendigen Behandlungen abgeschlossen und man erhält einen Nachsorgeplan, d.h. Termine wann und wo und wie lange finden Kontrolluntersuchungen stattfinden.

Manchmal sind Behandlungen nötig, die Jahre dauern, wie z.B. die „Antihormontherapie“, manchmal – bei fortgeschrittener Behandlung erhält man eine „Erhaltungstherapie“, die man bekommt, solange man sie verträgt, bzw. solange sie wirkt.

Wenn Betroffene nun in der glücklichen Situation sind, dass alle Nachsorgekontrollen ergeben, dass „alles in Ordnung ist“, dass keine Medikamente mehr eingenommen werden müssen und dass nun auch keine Kontrollen mehr im Krankenhaus nötig sind, ist das ein Meilenstein.

Ein Grund zur Freude – könnte man meinen.
Für viele Betroffene ist das auch so.
Für manche Patient:innen ist es aber auch vorübergehend ein Grund sich wieder- verloren und verunsichert zu fühlen, also auch ein Grund um Angst zu haben.

Sich „plötzlich“ nicht mehr im sicheren „Netz“ des regelmäßigen Nachsorgeplanes zu befinden, kann herausfordernd sein.


Ab wann fühlen sich Krebspatient:innen gesund?
Ab wann fühlen sich Krebspatient:innen sicher?

Wie immer ist das sehr unterschiedlich und hängt von vielen Faktoren ab.
Wichtig ist, dass man sich einen Rahmen schafft, der einem Sicherheit gibt, soweit das eben möglich ist.
Hilfreich ist auch sich zuzutrauen ab nun – wie jene Menschen ohne Krebsdiagnosen –  „normale“ Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen in Anspruch zu nehmen und zu lernen wie es sich anfühlt, „flügge“ zu sein (wie Marilies es beschreibt) und nach und nach diesen Umstand zu genießen.

„I believe, I can fly….!”
Hilfreich ist zu akzeptieren, dass man gesund ist.
Hilfreich ist Vertrauen in die eigene Gesundheit zu haben.

Ein Meilenstein ist geschafft.

Und los geht’s!

 

„Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.“
(Epiktet)



 

 

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