Buchstabennudelmassaker

Ich war im Großen und Ganzen ein ruhiges Kind.

Außer, wenn mich meine Eltern zum Zahnarzt brachten. Wenn mein Vater die Reifen unseres weißen Renault 4 unheilschwanger vor der Praxis des hiesigen Zahnfleisch-Schlächters ausrollen ließ, füllte ich nach dem "Moment der Erkenntnis" meine Lunge mit Luft und ließ ein langgezogenes angsterfülltes Heulen folgen.

 

Zahnarzt war schlimm.

Augenarzt war schlimmer.

 

Ich hatte mit 6 oder 7 Jahren eine Art kindliche Sehstörung und trug eine Zeitlang dicke Brillengläser.

Bei den regelmäßigen Augenarzt-Besuchen bekam ich eine Flüssigkeit unter die Lider geträufelt, die mein Scharfsehen für einige Stunden ausschaltete. Ich sah leicht verschwommen.

Für mich die reinste Folter, denn in dieser Zeit konnte ich nicht LESEN.

 

Vermutlich konnte ich schon meinen eigenen Mutter-Kind-Pass lesen (okay, das ist übertrieben), denn ich war eine Frühstarterin. Heute weiß niemand mehr, wer mir bereits im zarten Alter von 4 Jahren das Lesen beibrachte. Es wird wohl mein Opa gewesen sein, der sich in dieser Zeit viel mit mir beschäftigte.

Ich weiß noch, wie ich im Kindergarten-Turnsaal den Babybrei-Hersteller-Aufdruck auf einem verkehrt herumliegenden Wasserball im Regal laut vorlas und sich die Kindergärtnerin vor Begeisterung kaum noch einkriegte.

 

Ich las alles, was ich in die Finger bekam.

Meine Hauptmotivation war anfangs wohl, dass ich nicht nur die bunten Comic-Bildchen betrachten, sondern auch wissen wollte, was die Hieroglyphen in den Sprechblasen bedeuteten.

In der ersten Klasse Volksschule trat mein größter Förderer in mein Leben: mein Lehrer, der gleichzeitig auch noch ein erfolgreicher Kinderbuchautor war (und ist). Er brachte uns Kindern auf so spielerische und spannende Weise bei, das Lesen - und damit auch Bücher - zu lieben, dass dieses Wirken bei mir noch heute nachhallt.

In den ersten Schuljahren gewann ich beim Schnelllese-Wettbewerb regelmäßig, und mein Gespür für Wörter, Formulierungen und Text-Ästhetiken bildete sich wohl schon damals aus. Ein Segen in der damaligen Zeit, die Lichtjahre entfernt schien von heutigen whatsappigen "Oida, gemma Kino"-Verbrechen.

 

Doch genug geprahlt.

Ich war ohnehin eine stille, eifrige, wissbegierige Leserin mit überbordender Phantasie.

Die Highlights dann auch in meinem Gymnasium-Leben waren stets die Bücherei-Besuche mit meiner Mutter, bei denen ich mit brennendem Eifer, auf der Suche nach spannenden Romanen, zwischen den Regalen verschwand. Wenn ich meine 5 oder 6 Bücher, die ich den kommenden Wochen auszulesen gedachte (und es auch immer schaffte) auf dem Tresen stapelte, waren manchmal auch Ausleih-Musikkassetten dabei, wie zum Beispiel diejenige mit dem Typen in Schuluniform auf dem Cover, der Kabel statt Hände hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Ich las immer noch alles mögliche. Altersgemäß Jugendromane, aber auch "erwachsenere" Bücher wie Krimis. Es gab damals auch Medizinthriller, die ich nur zu gerne las - ohne zu wissen, dass ich zig Jahre später meinen eigenen erleben würde...

Sogar vor "Groschenromanen" machte ich nicht Halt (John Sinclair rules!), blätterte aber auch verschämt als aufblühendes Pubertäts-Opfer in Liebesromanen.

Musikzeitschriften las ich stapelweise weg - und das tu' ich auch heute noch.

Bei den Büchern kam mit dem Tolkien-Hype noch ein Interesse für Fantasy-Literatur hinzu, später auch Science Fiction und historische Romane (wobei Letztere heute leider meist nur noch in historische Kulisse gepackte "Frauenromane" sind).

Eine große Schwäche habe ich für Sachbücher über Geschichte und Musikbiografien.

Trotz meines (Staub ansetzenden) E-Book-Readers stapeln sich zu Hause die Bücher.

Und stapeln sich... und stapeln sich.

 

Ich habe immer gelesen.

Der vorübergehende Bruch kam - es ist nicht schwer zu erraten - zum Zeitpunkt der Krebsdiagnosen.

Damals hatte ich gerade den vierten oder fünften Band von "Das Lied von Eis und Feuer" auf dem Nachttisch liegen.

Ich habe die Reihe nicht fertiggelesen. Bis heute nicht.

 

Als ich ins Krankenhaus einrückte, nahm ich keinen Entspannungs-Stapel Bücher mit. Eigentlich las ich nur, was Google über meine Krankheiten ausspuckte (und das war keine gute Idee).

Ich hätte mich nicht konzentrieren können, wie man wahrscheinlich nachvollziehen kann. Ich fand es zu dieser Zeit "unterhaltsam" genug, die Wand in meinem Krankenhauszimmer anzustarren.

Noch heute blicke ich fassungslos auf Leute, die in Zahnarztpraxis-Wartezimmern sitzen und gemütlich in ihrem Buch lesen, bevor sie sich der Wurzelbehandlung hingeben. Ich stattdessen würde lieber meine Lunge füllen und.... siehe oben.

 

Das Lese-Unvermögen endete allmählich, als meine Therapie-Zyklen begannen und ich viel (SEHR viel) Zeit zu Hause verbrachte.

Ich "verbrannte" Bücher wie ein Marathonläufer Kalorien verbrennt. Es diente wohl nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der "Flucht" und Ablenkung.

In diesen Monaten verschlang ich Bücher über Mick Jagger, Keith Richards, Charles Manson und die zweite norwegische Black Metal-Welle. Ich beendete ein Buch über Nordkorea, um gleich darauf mit einem über das Leben im Mittelalter zu beginnen.

Ich verbrachte mehrere Nächte mit Darmkrämpfen und dem Lesen jedes einzelnen Buchstabens in meinen Musikzeitschriften auf dem Klo.

Ich las, las, las.

 

Ich las nur eines nicht: Bücher über Krebs. Bis auf zwei größere Ausnahmen, dazu gleich mehr.

Ich wollte nicht auf vollgeschriebenen Seiten auch noch mit dem Thema konfrontiert sein.

Ich wollte nicht, dass mir ein Autor mit dem imaginären Zeigefinger an die Stirn tippte und mir erklärte, dass jedes weitere Zuckerkristall womöglich die endgültig tödlichen Krebszellen wüten lassen könnte, oder dass nur die tägliche Beschäftigung mit makrobiotischer, ketogener, weizenfreier Ernährung und ausgeprägtem Yoga-Heilgesang mir den Tod vom Hals halten könnte. (Gut, das ist überspitzt und nur ein winziges bisschen sarkastisch, aber ihr wisst, was ich meine... und ihr kennt mich ja. ;-))

 

Ich wollte mich auch nicht mit "Cancer, you picked the wrong bitch"-Tatsachen-Schilderungen in Erzählform auseinandersetzen, wozu amerikanische Krankheitsgeschichten ja neigen ("Fight! This is war!").

Mich reizten keine Bücher, in denen Erkrankte erzählten, dass sie nach ihrem Krebs nur noch auf rosa Selbsterkenntnis-Wölkchen schwebten, denn ich hielt es nie für so cineastisch "einfach".

Und schon gar nicht rührte ich Erzählungen an - auch hier wieder ein oder zwei Ausnahmen - die minutiös alles Leiden bis ins Detail schilderten und mit dem Tod endeten. (Das hätte mich nicht sehr motiviert, glaub' ich.)

 

Ein "sachliches" Buch über Krebs las ich dann doch: "Der König aller Krankheiten" (mächtiger Titel, übrigens) von Siddhartha Mukherjee, einem amerikanisch-indischen Onkologen, der sich auf sehr komplexe und ungeheuer spannende Weise in "Biografie-Form" (also auch historisch) mit dem Thema Krebs auseinandersetzte.

Das war anders als das weiter oben Verschmähte, und da las ich sogar mit Interesse die Kapitel über erste Mastektomie-Versuche vor ein paar Jahrhunderten, als man Frauen noch den halben Oberkörper wegschälte.

 

Ach ja, und dann war ich bei einem "Buch über Krebs" sogar selbst dabei. In "Lebe! Diagnose Krebs als Chance zur Veränderung" sammelte Gesundheitsjournalist und Autor Thomas Hartl einzelne Geschichten von (zumeist) Genesenen, die das Potential zum Mutmachen haben. Als damals die Anfrage zum Mitmachen kam, war mein Autoren-Selbstbewusstsein noch nicht weit gediehen und so wollte ich niemanden mit seitenlangen Ausführungen zu meiner Story langweilen (wie ich dachte). Daher fiel meine schriftliche Wortspende mit 2 vollständig gefüllten Seiten eher mager aus. ;-)

 

Danach ging ich längere Zeit mit der Idee schwanger, selbst "irgendwann mal" ein ganzes Buch mit meiner Geschichte, Gedanken etc. zu veröffentlichen. Der immens pseudo-provokante Titel hätte "Mein Freund, der Krebs, und ich" gelautet und ich hätte vorgehabt, zwischen den Erzähl-Kapiteln fiktive "Briefe an den Krebs" einzustreuen. Ich war schon immer ungeheuer innovativ, echt wahr. ;-)

Ich hab's dann gelassen und nicht weiterverfolgt. Ich hätte mich nämlich auf den Hosenboden setzen und bemühen müssen, einen Verlag an Land zu ziehen und .... oh... ich hätte mein Buch natürlich auch erst mal schreiben müssen.

Nein nein, da war zuviel Angst vor der eigenen Courage - und Bequemlichkeit.

 

Aber ganz verloren gegangen sind meine Ambitionen ja nicht. Nun ist eben dieser Blog eine in Häppchenform gegossene digitale Variante meine "Buches" geworden. Die Bestsellerlisten führe ich damit freilich nicht an, und in Talkshows und auf Magazinseiten sucht man mich vergeblich (Regionalzeitungen haben ein- oder zweimal mein "Genie" damals erkannt), aber ich habe meine StammLESER - euch! (Und wer es noch nicht ist, ist es vielleicht bald.... und ihr dürft die Botschaft gerne auch weiterverkünden. :-))

 

Als Kind aß ich immer gern Buchstabensuppe, und wenn mir die vermaledeiten Augentropfen nicht gerade die Sicht trübten, schob ich die Mini-Teigwaren mit dem Löffel an den Rand und formte daraus Worte.

"Tu' jetzt das Heftl weg", ermahnte mich meine Mutter dann meist, weil natürlich gleichzeitig auch das neueste Fix & Foxi vor mir lag.

Ich schob's weg und machte stattdessen weiter mit dem Teigwaren-Buchstabieren.

Es ist nicht überliefert, aber ich könnte mir vorstellen, dass es so ablief, dass ich die Namen meiner verhassten Ärzte (Aug' um Aug, Zahn um Zahn) in aller Seelenruhe an den Tellerrand schob.

Buchstabe für Buchstabe...

... und dann nahm ich den Löffel, kniff die Augen und Zähne zusammen bzw. aufeinander und zermanschte die Herren Doktoren (bzw. halt zumindest ihre Namen) im Rahmen eines genüsslich zelebrierten Nudel-Massakers.

 

 

 

Dieser Blogbeitrag ist meinem Volksschullehrer gewidmet: Franz Sales Sklenitzka, der mein Leben und meine Fantasie mit "Drachen haben nichts zu lachen" und anderen Büchern, sowie seiner unnachahmlich-kreativ-spannenden Art zu unterrichten, von Grund auf beeinflusste.

Ich erkannte Sie vor kurzem an der Supermarkt-Kasse, als Sie zufällig vor mir standen, und ich war zu paralysiert und perplex, Sie nach so vielen Jahren wiederzusehen, dass ich Sie nicht mal ansprach.

Danke, für all Ihr Tun, lieber Herr Lehrer!

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    sabine (Dienstag, 14 September 2021 08:22)



    An den Renault kann ich mich noch gut erinnern :-)

    .... ich hatte seine Frau als Lehrerin .....

    LG