Alle Zeit der Welt?

Als ehemals Krebskranke ist man hinterher voll geläutert. Die Erkrankung war ein Schuss vor den Bug, welcher als solcher erkannt wurde und dann drehte man befreit das Leben um 180 Grad. Plötzlich fiel einem alles wie Schuppen von den Augen, die Schleier wurde weggezogen, und man kapierte, dass das Leben permanent als "Geschenk" wahrzunehmen sein sollte ... und wenn man wieder in alte Verhaltensmuster zurückzufallen droht, hebt sich warnend der Zeigefinger.

Alles muss jetzt luftig leicht sein, weil: Der Krebs hat den Weg gezeigt.

Lebe, liebe, lache!

 

Jep.... genau.

Aber leider: Das hier ist kein Ratgeber, der einem weismachen will, dass einem alles in den Schoß fällt, wenn man erst eine schwere Erkrankung wie Krebs überstanden hat. Weil: Wenn man das geschafft hat, dann kann "der Rest" auch nicht mehr schwierig sein.

 

Ich habe auch so gedacht - vor allem Letzteres - und ich habe irgendwie erwartet, dass ich extrem viele Momente der Erleuchtung haben würde, worauf es im Leben ankommt.

Wirklich, wirklich ankommt.

 

Das ist aber auch eine Art Druck, dem man ausgesetzt ist.

Einerseits erwartet man selbst, dass sich das Leben "ab jetzt" wie durch Zauberhand nur noch auf das Wesentliche einschleift.

Andererseits erwartet das manchmal auch das Umfeld, oder wenigstens soll bitte möglichst wieder alles so funktionieren wie vorher - inklusive man selber.

Auch hört und liest man immer wieder von diesen Idealfällen... von Menschen, die von jetzt auf gleich ihr Leben umkrempelten und sich ihm viel mehr mit "Genuss" widmen.

... Und man fragt sich: Wann geht das bei mir denn jetzt endlich in der gleichen himmeljauchzenden Form los? ;-)

 

Ja.... wann?

Das bringt mich zum eigentlichen Thema.

 

Wir achten auf ... die Zeit.

 

Was bedeutet ZEIT für eine an Krebs (oder anderweitig) erkrankte Person?

Die Antwort ist natürlich: Für jede/n etwas anderes, nicht nur abhängig von der Schwere der Erkrankung, der Prognose etc. (wobei das natürlich ein wesentlicher Gradmesser ist).

 

Wie ist die Zeit VOR dem Ereignis "Krebs" zu bewerten?

Auch für jede/n anders, doch in vielen Fällen läuft das Leben wohl irgendwie "so dahin" - wie im Zeitraffer oftmals vielleicht.

Die Diagnose bedeutet dann eine Art Vollbremsung, vielleicht "fährt" man auch gegen eine Wand.

 

Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen: Ja, genau so war es.

Leben - Überholspur - von 100 auf 0 und ohne Airbag. Boing.

Ab diesem "Ich-hab-Krebs"-Zeitpunkt löst sich der vermeintlich klar zu fassende Begriff "Zeit" in etwas Vages, Unklares, Beängstigendes auf.

Nein, "Auflösen" ist nicht richtig - es zerstiebt sang- und klanglos in alle Himmelsrichtungen wie eine Wolke aus Sand.

 

Plötzlich gibt es kein "in 20 Jahren" mehr.

Oder: "Wenn ich 80 bin..."

Es gibt nicht mal mehr "in 2 Jahren" oder "in einem halben Jahr".

Man möchte nicht mal mehr an "morgen" denken.

(Außer, natürlich, man ist eine 100pro optimistische Rossnatur.)

 

Man sitzt unter dem Brennglas des "JETZT".

Etwas, das sonst erstrebenswert ist, denn es heißt ja immer so schön: Lebe im Jetzt.

Aber das "Krebs-Jetzt" ist eine Echtzeit-Realität, die man nicht erleben will.

 

Ich tat mir schwer damit und vermied es, "vorauszudenken", zu "-fühlen" und zu "-wünschen", denn die Zukunft war in diesen Momenten ein schwarzes Loch.

Ob wir morgen, in 2 Monaten oder in 2 Jahren noch da sind, wissen wir alle nicht ... doch zu 99% machen wir uns das nicht (ständig) bewusst.

Das ändert sich mit der Diagnose, die zumindest das "Vielleicht" - und in vielen Fällen leider das "Wahrscheinlich" oder "Sicher" - beinhaltet, dass das Leben schneller enden könnte.

 

Ich kann nicht für fortgeschritten bzw. chronisch erkrankte Menschen sprechen. Das wäre nicht recht. Denn auch wenn uns die Grunderkrankung verbindet, so kann ich von meiner Warte aus doch nicht beurteilen, welche (Ge-)Wichtigkeit der Begriff Zeit für diese Menschen hat.

 

Ich kann mich nur an meine eigene Erfahrung erinnern.

Mich erinnern, dass ich mich nicht an die Zukunft zu denken traute.

Nicht, weil ich dachte, dass ich ganz sicher sterben werde (wobei mir das in den dunkelsten Momenten anfangs doch als "ziemlich leicht möglich" erschien aufgrund meiner Doppel-Diagnose), sondern weil man nicht mehr mit der gleichen Sorglosigkeit und Selbstverständlichkeit an das herangeht, was im Leben noch kommt.

Das Rockfestival nächstes Jahr.

Die USA-Reise in 10 Jahren.

Vielleicht ein kleines Ferienhaus in Schweden in der Pension?

Aber nicht mal so weit muss gedacht werden. Schon das nächste Weihnachten/der nächste Sommer erscheinen so weit weg, als wäre es ein anderes Leben.

 

Ich stand ein paar Wochen nach der "Unheilsverkündung" in einem Geschäft, betrachtete eine neue Jacke, die mir gefiel... und dachte mit seltsamer Nüchternheit kurz darüber nach, ob sich der Kauf "noch auszahlt".

 

Viele berichten, dass die Zeit der Therapie (Chemo, OP, Bestrahlung etc.) wie ein Herunterbremsen und Schalten in den 1. oder 2. Gang erscheint, und das nicht nur, weil man körperlich nicht auf der Höhe ist.

Es ist ein Step-by-step - so kam es auch mir vor.

Man hangelt sich von Termin zu Termin, von Chemogabe zu Kontrolle, von Blutabnahme zu den täglichen Bestrahlungsterminen, von kleinen "Großereignissen" wie Ultraschall-Check bis zu großen wie der Mastektomie.

Ich bekam den gezielten Tunnelblick - darüber hinaus wollte ich (noch) nicht sehen.

Das lag auch an dem starken Fokus.

Chemo 1 - check, Chemo 2 - check usw.

Beginn Bestrahlung, Ende Bestrahlung.

Beginn Antihormontherapie... Ende - ups, die ist noch nicht zuende. ;-)

 

Zeit wird wirklich, wirklich relativ.

Die Zukunft ist nicht mehr "wichtig" (was paradox ist, weil man sich genau DIE eigentlich "erarbeitet"), sondern nur noch die Gegenwart.

Sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, hält die Angst (weitgehend) in Schach.

 

Mich persönlich interessierte die Vergangenheit in diesen Phasen sehr wenig.

Ich ging nicht hart mit mir ins Gericht und versuchte auch nicht zu analysieren, "warum" ich den Krebs gekriegt haben könnte.

Es war zu diesem Zeitpunkt einfach unerheblich.

Ich konzentrierte mich viel mehr auf das, was gerade geschah (zum Beispiel an jedem Tag nicht zu rauchen, was aber - ungelogen - meine leichteste Übung war.... dieses Kapitel war und ist immer noch beendet).

 

Erst später, nach Ende der Akuttherapie, begann ich mich wieder der Möglichkeit einer weiter in der Ferne liegenden Zukunft zu öffnen. Das hat aber lange gedauert. Nicht mal das magische Wort "Komplettremission" konnte daran sehr viel ändern.

 

Noch heute bin ich vorsichtig mit dem Blick in die Zukunft.

Das hat nichts mit "Zukunftsträumen" oder "Zukunftswünschen" zu tun, denn die habe ich und bin auch dabei, einiges davon umzusetzen.

Aber innen drin habe ich noch ein Zögern, zeitlich zu weit in die Ferne zu schweifen, und ich denke, das ist ganz normal.

Die Unbekümmertheit ist ein (großes) Stück weit verlorengegangen, aber das ist nicht nur Fluch, sondern manchmal auch Segen.

Ja - vielleicht ist das Leben nicht mehr so unbeSCHWERt in mancher Hinsicht, doch der eine oder andere Fokus lässt sich dadurch auch auf Dinge lenken, die man vorher nicht entdeckt hätte...

 

... oder für die man sich vielleicht auch nicht die ZEIT genommen hätte.

 

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0