Taub

"Wie war das damals, als du die Diagnose bekommen hast? Ich meine.... als du sie ganz frisch bekommen hast? Wie war das für dich?"

 

So direkt hat mich das bisher noch niemand gefragt.

Vielleicht fragt man "so etwas" nicht... vielleicht will man es auch gar nicht genau wissen, weil man sich dieses Unbegreifliche gar nicht vorstellen möchte. (Wie würde man denn selbst reagieren?)

 

Ich habe bereits davon berichtet - ich bin ziemlich sicher, schon mehrmals in verschiedenen Beiträgen, und die regelmäßigen Leser (ich pfeif jetzt mal auf Gendern, pff...) werden ja auch wissen, dass mich ein paar Tage nach der ersten Diagnose per Genickwatschn gleich die nächste ereilte.

 

Wie steckt man das denn weg?

Nun... gar nicht.

 

Ich hab' das gewissermaßen "in der Hand gehalten"... mit mir herumgeschleppt... und auf genügend Kraft und Zuversicht gewartet, bis ich ES erst einmal an meine Seite klemmen kann. Dahin, wo ich es sehen kann, denn "Wegstecken" - nein. Das wär mir zu unrealistisch gewesen (auch wenn ich weiß, dass das einfach nur ein nicht wörtlich zu nehmender Ausdruck ist).

 

Jedenfalls -

ich verließ die Praxis des Arztes, der mir gerade gesagt hatte, dass ich Hautkrebs habe, und ich brach nicht zusammen. Nicht, weil ich superstark war, sondern weil ich noch eine Weile funktionieren musste.

Trotz der Taubheit.

 

Das bedeutete, dass ich nach einigen Minuten des Sich-Sammelns nach dem Handy griff und meinen Chef anrief, um ihm zu sagen, dass ich wohl länger nicht zur Arbeit zurückkehren würde.

Vor etwa einer Stunde, als die Welt noch eine völlig andere war, hatte ich ja gerade meinen Dienst vorbereitet und war mit etwas Banalem (Geschirrspüler ausräumen) beschäftigt gewesen, als der Anruf gekommen war.

 

Direkt danach ging ich zu meiner damaligen Lebensgefährtin, die mir in einem nahegelegenen Park entgegenkam und mich tröstend in die Arme nahm.

Nimm es weg, waren Worte, die mir durch den Kopf gingen, die ich aber nicht aussprach. Was hätte es mir auch genützt? Es wäre ohnehin nicht möglich gewesen.

 

Die folgenden Tage versanken irgendwie im Nebel.

Ich wusste, dass ich ca. eine Woche später zum Operieren ins Krankenhaus musste (zu diesem Zeitpunkt noch ahnungslos, dass man beim Ultraschall noch Krebs Nummer 2 finden würde), und diese endlosen Stunden und Minuten galt es zu überbrücken.

Mit Googeln zum Beispiel. Keine gute Idee. Der Informations-Süchtler in mir wollte wissen, womit er es zu tun hatte. Nur so - sagte ich mir - konnte ich auch entsprechende Fragen stellen, wenn Ärzte sich mit mir über meine Krankheit (Krank! Krank! Ich war tatsächlich krank!) unterhielten.

Aber ich wollte gar nicht alles wissen. Nichts über Statistiken und nichts über Prognosen.

Ich suchte stattdessen in Diskussionsforen nach Menschen, die ebenfalls ein spitzoides Melanom hatten und die noch lebten. Die bitte, bitte, bitte noch lebten.

Ich setzte mich mit Begriffen wie Clark-Level, Tumordicke und Zellteilungsrate auseinander, als würde ich eine Gebrauchsanleitung lesen. Nur dass es eine Gebrauchsanleitung für einen Schleudersitz war, in dem ich möglicherweise saß...

Wohin ging die Reise?

 

Was machte ich noch?

Ich stornierte einen Schwedisch-Kurs, den ich zu absolvieren gedacht hatte.

Vorher.

Das war gar nicht so einfach, denn Storno-Gebühren wollte man mir trotzdem draufdrücken. Erst, als ich meinen Befund mailte (was mir so gar nicht behagte - was ging es die an?), war man bereit, mich aus dem Kurs zu entlassen.

So unwichtig, das alles.

Und doch federte es die Kollateralschäden ab.

 

Ich aß wenig.

Ich erinnere mich an Apfelschnitze und Bananenstücke, die ich in mich reinzwängte, weil ich nicht ständig auf nüchternem Magen rauchen wollte.

Ich rauchte nämlich fast Kette.

Ich war noch ein paar Tage davon entfernt, dem Nikotin für immer zu entsagen.

Vorerst bedeuteten die Glimmstängel noch Krücken, an denen ich mich festhielt.

Eigentlich hätte ich mich auch jeden Tag fürchterlich besaufen können.

Komisch, das war mir gar nicht eingefallen. Vielleicht wollte ich doch irgendwie klar bleiben?

 

Mein dunkelster Moment zu dieser Zeit?

Ja, lieber Leser, wenn du bis hierher gelesen hast, dann darfst du auch jetzt nicht die Augen zusammenkneifen.

Der dunkelste Moment war, als ich alleine durch den südlichen Teil der belebtesten Einkaufsstraße lief und mich nichts erreichte... nicht der Trubel um mich, nicht die Menschen, nicht die Fahrzeuge (immerhin wurde ich nicht überfahren), nicht die Sonne, nicht das Vogelgezwitscher.

Da war sie wieder, die alles überstülpende Käseglocke, die ich bereits gut kannte.

Ich fühlte mich, als hätte ich eine maximal überdosierte Anästhesie-Spritze beim Zahnarzt bekommen.

Mein Kiefer war taub.

Ich war taub.

... Bis ich alle Stufen bis in den 3. Stock in unserem Haus hochlief und mit hämmerndem Herzen die Tür aufschloss, in die Wohnung stürzte und mich nach links drehte.

Dort war die Garderobe mit ihren an Haken hängenden Jacken und Mänteln.

 

Ich ließ mich nach vorne fallen, griff mit den Händen in den Stoff all dieser Jacken und Mäntel, vergrub mein Gesicht darin und weinte, wie ich noch nie geweint hatte.

Warum?

Aus Angst.

Weil ES nicht weg war und auch nicht weg ging und man sich darum kümmern musste, ob ich nun wollte oder nicht.

Weil ich nicht sterben wollte.

Weil die Zukunft ein riesengroßes, schwarzes, ungewisses Loch war.

 

Ich weiß nicht mehr, wie lange das dauerte.

Wahrscheinlich nicht lang.

Wahrscheinlich beruhigte ich mich bald wieder und trocknete die Tränen (oder schluckte den Rest hinunter).

Fasste ich wieder Zuversicht?

Vermutlich nicht.

Ich erinnere mich an sehr wenig "klassische" Zuversicht in diesen Tagen. Ich war einfach zu betäubt, zu fassungslos, zu geschockt dafür.

Was machte ich direkt danach?

Vermutlich ging ich eine rauchen. Oder ein Stück Banane essen, vor dem Googeln.

 

Die Taubheit begleitete mich noch eine ganze Weile.

Sie kam mit aller Wucht wieder, als man mir von dem Verdacht auf ein Mammakarzinom berichtete.

Ich würde ziel- und planlos durch die Krankenhausgänge laufen, und die kleine Episode an der häuslichen Garderobe würde dagegen regelrecht unwesentlich anmuten.

 

Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich nur noch ganz kurz Geduld haben musste, da sich der Funken schon auf dem Weg befand... und damit die Kraft und der Mut - ich hätte es nicht geglaubt.

Damit entdeckte ich mich neu.

Damit lernte ich mich neu kennen.

Ich hätte nicht gedacht, dass das in mir stecken kann.

 

Leben unter der Taubheit.

Richtig viel energisches, rohes, gewolltes Leben.

 

Ich habe seitdem - seit den Diagnosen, der Genesung und der Zeit danach - nicht alles richtig gemacht.

Ich bin nicht das blühende Leben.

Ich bin oft ein zurückgezogener, empfindsamer, hin- und hergerissener Mensch, der zwar für seine Leidenschaften lebt, aber sich an den Ecken und Kanten des Lebens doch immer wieder die Haut aufschürft.

Wie es eben ganz normal ist.

 

Und doch erinnere ich mich oft und gerne daran, wie es war, als die Taubheit auf- und abgelöst wurde, und auch wenn die Zeit alles andere als einfach war - ich begegnete mir selbst in einer Art und Weise, wie ich das nie für möglich gehalten hätte.

 

Es ist möglich.

Ich weiß es, und das lässt mich auf meinem Weg auf der Umlaufbahn immer wieder im Auge behalten, dass es viele Momente gibt, viele Chancen ...

... mich empor zu erheben, abzustoßen und einzutauchen in das unmittelbare Zentrum.

Wahrscheinlich hole ich mir weiter eine blutige Nase, weil ich gegen die Wände schelle (mitunter gegen meine eigenen), aber hey...

 

... zumindest habe ich es getan und tu es weiter.

Immer wieder.

Immer wieder.

 

Und immer wieder.

 

(At least I have tried.)

 

 

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