Nolvadex reloaded

© Revel In Flesh
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Man sollte meinen, nach über 8 Jahren täglicher Tabletten-Einnahme sollte das so sehr in Fleisch in Blut übergegangen sein (im wahrsten Sinne des Wortes sogar), dass mir der flache runde Pressling fast schon alleine über die Lippen wandert.

Denkste!

 

Da sitze ich also nun in der Westbahn, auf dem Weg nach Niederösterreich, und mit fast gleichmütiger Gelassenheit, gepaart mit stoischer Resignation, lasse ich die Gewissheit ins Hirn träufeln, dass ich meine Tabletten zu Hause vergessen habe - und das geht gar nicht.

Mein Präparat hat eine gewisse Halbwertszeit, daher werden meine Östrogenrezeptoren nicht gleich Samba zu tanzen beginnen, wenn mal 1 oder 2 Tage keine Einnahme erfolgt. Aber länger damit aussetzen - damit hätte ich kein gutes Gefühl.

 

Was also tun?

Zurückfahren? - Keine gute Idee.

Meine Hausärztin am nächsten Tag anrufen und mir ein E-Rezept auf die E-Card schicken lassen? - Das ginge, könnte aber auch dauern.

Besser noch: Ich suche den Hausarzt meiner Eltern in meinem Heimatort auf, der zum Glück Abend-Ordination hat, hole mir das Rezept und besorge die Tabletten. Problem gelöst!

 

3 Stunden später fahre ich also mit dem Auto zum Gemeindebau im eher ländlichen Gebiet, denn dort hat Dr. W. seine Ordination.

Als ich ankomme, bin ich nicht die erste. Vor dem Haus und im Stiegenhaus warten bereits einige Leute. Der Trekking-Sandalen-Träger mit Sonnenbrand genauso wie die Pensionistin mit der Kittelschürze und den Krampfadern. Und noch andere.

Die Praxis hat noch nicht geöffnet.

 

Ich lungere ein wenig herum, gehe nochmal zum Auto zurück, um eine FFP2-Maske zu holen (der MNS ist nicht genug, wie mich das selbstgemalte Schild an der Tür vorwurfsvoll ermahnt). Ich war nämlich kurz oben im 1. Stock an der Tür, müsst ihr wissen, um die Öffnungszeiten zu überprüfen.

Die junge Frau im Gerade-nicht-mehr-Teenager-Alter, die als Erste auf dem Treppenabsatz wartet und die aufgeklebten bunten Gelnägel über den Handybildschirm klackern lässt, sieht mich misstrauisch an.

Ich bin sicher, sie würde selbige als Waffe benutzen, sollte ich vordrängen.

Was ich nicht vorhabe.

 

Es ist Kleinstadt-Randgebiet, und hier kennt jeder jeden. Außer mich.

Ich schlurfe ein wenig herum, mit den Händen in den Hosentaschen, und höre unfreiwillig ein paar Gespräche mit. Der Trekking-Sandalen-Träger, der breitbeinig auf der Bank vor dem Haus sitzt, starrt mich düster an. Vielleicht liegt es an meinem Bandshirt mit den Särgen und Totenköpfen drauf, oder an meinen Tätowierungen.

Ich starre zurück.

 

Dann ist es soweit. Die Ordination öffnet ihre Pforten, alle setzen nun die FFP2-Masken auf und brav stellen wir uns in eine Reihe, mit genügend Abstand. Wer dran ist, meldet sich am Empfang an und nimmt dann entweder im Wartezimmer Platz oder wird wieder nach ganz draußen geschickt, wenn er oder sie nur ein Rezept braucht. Dieses wird dann nämlich durch das Fenster nach draußen gereicht. Alles dient dazu, nicht zuviele Menschen auf einmal auf engem Raum zusammenzupferchen. Das ist natürlich vorbildlich.

 

Ich rücke langsam nach. Vor mir sind nur noch drei Personen. Hilfsbereit weiche ich zurück, als ein alter Mann mit Krücken an mir vorbeigeht, um sich eine Sitzgelegenheit zu suchen.

Nun ist nur noch die Kittelschürzen-Frau vor mir, die jedoch glaubt, mit der Sprechstundenhilfe ein Schwätzchen halten zu dürfen/können/müssen, aber selbst sie macht schon bald Platz, und dann bin ich auch schon an der Reihe.

 

Erst mal muss ich erklären, was ich hier mache, im "fremden" Bundesland, und warum ich jetzt dringend ein Rezept brauche. In der ganzen Praxis ist es ansonsten still wie in einer Kirche. Andächtig hören mir etwa zehn PatientInnen dabei zu, wie ich Telefonnummer, Adresse, Hausarzt-Name und den Namen des Medikaments herunterbete. Ja, ich weiß, das ist normal, und in einer ärztlichen Ordination oder Ambulanz erwarte ich mir ganz bestimmt keine Privatsphäre (schon aufgrund der baulichen Bedingungen), aber nun ja - es ist dennoch jedesmal speziell in einer solchen Situation.

 

Die Sprechstundenhilfe und die Assistentin sind irritiert, weil sie mit dem Begriff "Nolvadex" erst mal nichts anfangen können. Auch der andere Name "Tamoxifen" hilft ihnen nicht sonderlich auf die Sprünge. Also erst mal den Computer bemühen, während ich bereitwillig Auskunft erteile. "Östrogenrezeptor-Antagonist" und so.

Da der Sandalist von vorhin, der jetzt hinter mir steht, immer noch böse auf den Sarg-Zombie auf meinem T-Shirt-Backprint starrt, bin ich kurzzeitig versucht, aus dem "Antagonist" einen "Antichrist" zu machen und das laut zu verkünden, aber das wäre dann doch etwas extravagant.

 

Die Sprechstundenhilfe will alles wissen.

Wieviele Milligramm? - "Zwanzig."

Zu welcher Tageszeit nehme ich das Medikament? - "Am Abend normalerweise."

Diagnose? - ...

Zehn (nein, jetzt sind's elf) andere PatientInnen spitzen die Ohren und starren auf ihre Schuh- bzw. Sandalenspitzen oder auf das Handydisplay (ich höre die Gelnägel immer noch klackern, diesmal aus dem Wartezimmer), während ich es sage:

"Antihormontherapie nach Brustkrebs".

Es gibt Angenehmeres.

 

Dennoch stört es mich nur in einem geringen Maß, dass ich mehr oder weniger gezwungen werde, meine vergangene Erkrankung zu benennen, gegenüber Menschen, die das nichts angeht.

Ich habe mich nie geschämt. Jetzt nicht und früher auch nicht - nicht mal in der Therapiezeit.

Es war nun mal Fakt, und ich habe immer noch mit den Folgen zu tun. Ebenfalls Fakt.

 

Ich werde wieder nach draußen geschickt und gehe an den Wartenden vorbei zur Tür. Niemand starrt mich an. Niemand zeigt mit dem Finger auf mich. (Kommt schon, ihr habt doch nicht erwartet, dass ich das jetzt schreibe, oder? ;-))

 

Mein böses Heavy Metal-Shirt flattert im Wind, der das nahende Unwetter bereits ankündigt. Mit den Händen in den Hosentaschen stehe ich wie der Prinz persönlich unter dem Fenster, bis Rapunzel ihr Haar - bzw. die Sprechstundenhilfe das Rezept herunterlässt.

 

Ich bedanke mich.

Ich gehe zum Auto.

Ich fahre zum Apotheken-Dealer, um mir meine tägliche Dosis Antichrist klarzumachen.

 

Hail Nolvadex!

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Sabine (Freitag, 20 August 2021 09:26)

    Würdest du ein Buch schreiben, ich würds kaufen!
    Unsere "Heimat", jaja.......die Typen dazu....der Film läuft im Kopf ab.....
    Wie man sich fühlt und du damit umgehst beeindruckt mich, dein Blog ist ein Lichtblick ins Schattenreich des Inneren.
    Deine Texte 2x zu lesen schadet nicht, du würzt sie so fein :-)
    Baba, Sabine